15. 04. 2006, Osternacht
Mk 16, 1 - 8
Liebe Gemeinde!
„Da verließen sie das Grab, denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt!“ (Mk 16,8).
Was ist das für ein Osterevangelium? Da ist nichts zu spüren von einer Freude, von dem großen Hallelujah, das wir eben so feierlich gesungen haben. Schrecken und Entsetzen am Ostermorgen! Und damit hört das Evangelium auf. Das sind die letzten Worte des Markus.
Die drei Frauen sind auf dem Weg zum Grab. Gerade haben sie noch den Triumph des Todes erlebt.
Ein altes Wort sagt es deutlich: „mors certa, hora incerta“. Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss. Wir leben in einer todverfallenen Welt. Nichts im Leben ist gewisser als der Tod. Der kommt ganz gewiss.
Die drei Frauen haben es erlebt. Der, den sie lieb hatten, der, der ihnen Gott als den liebevollen Vater nahegebracht hatte, ist brutal hingerichtet worden. Sie sehen die Bilder noch vor sich: die aufgehetzte Menge, die „kreuzige ihn“ schreit, Pilatus mit seinen routinierten Henkern, Golgatha mit den drei Kreuzen... Tot und begraben ist jetzt der, auf dem ihre Hoffnungen ruhten. Mit einem riesigen Stein bedeckt der Traum von einem anderen Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Vorbei ihre Zuversicht, dass dieser Jesus Israel erlösen würde. Der Tod, nichts anderes ist gewiss.
Was bleibt, ist die liebevolle Treue zu ihm, die pietätvolle Verehrung: wohlriechende Öle, die auf den Leichnam geträufelt werden sollen; Trauerarbeit, um sich auch selbst wieder zurecht zu finden in der eigenen Welt des Todes, aus der es eben doch kein Entkommen gibt.
Und nun kommt doch alles anders. Man muss die Ostergeschichten nicht oberflächlich als historisches Protokoll eines Ereignisses betrachten. Wie sollte sich auch protokollieren lassen, was alle Begriffe, alles Vorstellungsvermögen von Menschen sprengt? Wir sollten sie eher betrachten wie kostbare Bilder, die uns hinter der Oberfläche des Erzählten eine tiefere Wahrheit mitteilen wollen: Die Frauen kommen - und der Stein, Symbol der Hoffnungslosigkeit, ist weggewälzt. Sie kommen zum Grab, zur immerwährenden Wohnung des Todes. Aber sie finden nicht den Tod in ihm, sondern einen „jungen Mann auf der rechten Seite sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war“. Die Wohnung des Todes ist besetzt von einem Boten des Lebens. Wo es nach Leichentüchern und Verwesung zu riechen hat, dort breitet sich der Geruch des Lebens aus. Dort herrscht jetzt der Gott des Lebens.
Ostern: ein Umsturz aller Gewissheiten. Nicht einmal der Tod ist gewiss! Noch gewisser ist das Leben.
Ostern: Nicht mehr unter dem Leichengeruch der Mächte des Todes leben müssen, sondern auf den Duft des Lebens aus Gottes Macht setzen.
Ostern: Jesus, den Verspotteten, Gefolterten und Gekreuzigten, nicht für erledigt zu halten, sondern mit seiner Zukunft zu rechnen.
Ostern: ein Umsturz aller bisherigen Gewissheiten.
Es ist ganz sicher schwer, dem zu vertrauen. Zu massiv sind unsere Erfahrungen in der Welt des Todes. Sollen wir auf einen alten Text setzen, auf eine alte wundersame Erzählung, wo unsere Vernunft, wo alle unsere Erfahrungen dagegen sprechen?
Aber stimmt das eigentlich: alle unsere Erfahrungen? Könnte es sein, dass uns die Ostergeschichte die Augen öffnen hilft für Gegenerfahrungen, für österliches Geschehen auch in unserem Leben?
Die Kinder haben uns eben in ihrem Tanz eine solche Erfahrung des Lebens geschenkt. Die aufbrechenden Blumen, geschenkte Versöhnung, Hoffnung im Dunkel - alles Gegenerfahrungen des Lebens in einer Welt des Todes. Die Ostererzählungen wollen uns helfen, sie mit offenen Augen zu sehen - und ihnen zu trauen.
Rose Ausländer hat es einmal so formuliert:
„... Wer könnte atmen
ohne Hoffnung,
dass auch in Zukunft
Rosen sich öffnen...
ein Liebeswort
die Angst überlebt...“
Ostern - ein Umsturz der Gewissheiten. Der Tod ist noch da. Es gibt noch Gräber. Es wird noch immer gestorben. Es wird noch immer geschossen, gefoltert und umgebracht. Es gibt noch immer Situationen voller Hoffnungslosigkeit. Aber dem Tod ist ein Bein gestellt worden. Er ist nicht mehr die einzige und letzte Gewissheit. Gott hat seinen Platz schon besetzt. Er, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist die letzte, wenn auch noch oft verborgene Instanz. Er hat Jesus, den Liebhaber des Lebens, auferweckt. Deshalb lohnt es sich, auf Gottes Lebensmacht auch hier unter uns, auch in meinem Leben, zu achten.
Noch einmal zurück zu den Frauen. Mit Furcht und Entsetzen fliehen sie aus dem Grab. Die drei fliehen in panischer Angst.
Es gibt keinen Kommentar in unserer Geschichte, der das kritisiert - nach dem Motto: Christen haben keine Angst. Immerhin: Die drei Frauen waren mutiger gewesen als die männlichen Jünger. Petrus und die anderen waren vor lauter Angst ganz von Jerusalem geflohen. Keiner sollte ihre Verbindungen zu dem gekreuzigten Aufrührer aufspüren. Die drei Frauen waren mutiger gewesen und hatten sich zu Jesus bekannt, als sie sich zum Grab aufmachten. Aber nun fliehen sie in Furcht und Entsetzen.
Was macht ihnen Angst?
Sie erleben, wie die Gewissheiten umstürzen: weggewälzt der Stein, der alle Hoffnungen unter sich begraben hatte; im Grab nicht der Tod, sondern das Leben;
keine Salbung eines Toten, sondern ein Aufruf, dem Auferstandenen und Lebendigen nachzufolgen.
Sie erleben: Nicht einmal der Tod ist gewiss. Umsturz aller bisherigen Werte und Ordnungen: Der Gekreuzigte, der so tot war, wie man nur tot sein kann, lebt.
Ostern entsetzt uns nicht mehr. Wir haben uns an seine Botschaft gewöhnt. Ostern haben wir eingebürgert - als schönes Familienfest. Jesus ist auferstanden. Wir reagieren nicht mit Entsetzen reagieren, eher mit skeptischem Zweifel - oder auch mit der Langeweile der Selbstverständlichkeit.
Das Entsetzen der Frauen ist der angemessenere erste Schritt auf das hin, was sie erleben. Es zeigt, dass sie registrieren, was sich hier ereignet hat: Der Tod ist nicht mehr gewiss. Die alte Ordnung der Welt gerät aus den Fugen. Es braucht viel Zeit, bis man das ein wenig verstehen kann und bis man die Konsequenzen sieht, die sich daraus ergeben.
In der Tat: Ostern ist ein Fest mit Konsequenzen. Wenn es stimmt, dass nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern das Leben, Christus, der Auferstandene, Gott selbst, dann könnte sich manches ändern, was in der Todesordnung unserer Welt und vielleicht auch in meinem Leben selbstverständlich ist.
„Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss“, so heißt es.
Seit Ostern ist der Tod nicht mehr die letzte Gewissheit, sondern das Leben aus Gott, die Auferstehungskraft Jesu Christi.
Wie würde sich unser Leben verändern, wenn wir unsere skeptischen Zweifel hinter uns ließen oder unsere Langeweile und wenn uns ein wenig von dem Entsetzen der Frauen überkäme. Wir fingen dann an zu ahnen, was das heißt: Auferstehung. Wir spürten dann etwas von Gottes neuer Ordnung des Lebens hinter unseren Ordnungen des Todes. Wir könnten dann beginnen, schon aus dieser neuen Gewissheit des Lebens heraus zu denken, zu hoffen und zu handeln.
Gott helfe uns dazu mit seiner österlichen Macht.
Amen
Harald Fischer