19. Februar 2006, 7. Sonntag im Jahreskreis
Mk 2,1-12
 

Liebe Gemeinde!
  
Was ist leichter? Zu sagen: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ oder zu sagen: „Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh umher?“
 
Natürlich ist es leichter, zu sagen: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ Ein Wort, dessen Wahrheitsgehalt niemand nachprüfen kann. Wer sieht schon die innere Wirklichkeit eines Menschen? Und Worte, leere Worte gehören zu unserem Lebensalltag. Wir sind es geradezu gewohnt, dass Worte gemacht werden, die keinen wirklichen Inhalt haben und die eigentlich nichts aussagen.
 
In dem Evangelium des heutigen Tages geht es aber offensichtlich um etwas anderes. Da gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Wort und Wirkung.
 
Jesus begegnet einem Menschen, der gebunden, niedergedrückt, gelähmt ist. Wovon? Das wird nicht ausdrücklich erzählt. Aber es geht offensichtlich um eine Erfahrung des Scheiterns, die dieser Mann gemacht hat. Vielleicht war er einer konkreten Herausforderung nicht gewachsen. Vielleicht war es eine Erfahrung von Versagen, die er gemacht hat. Vielleicht gibt es eine Schuld, die ihn bedrückt, vielleicht sogar in einem wesentlichen Bereich seines Lebens. Vielleicht ist es auch „nur“ die Angst vor dem Leben, die ihn lähmt, oder eine allgemeine Angst vor einem möglichen Versagen. Wie viele Menschen leiden nicht heute unter solchen Ängsten und haben aufgrund dessen so viel ungelebtes Leben in sich, weil sie sich nicht trauen, ihren Lebensimpulsen nachzugehen.
 
Der Mann des heutigen Evangeliums ist jedenfalls gebunden - an einen engen, sehr engen Rahmen. Er kann nicht mehr über sein eigenes Leben bestimmen, er kann nicht einmal sagen, wohin er selber gehen wollte. Andere Menschen haben für ihn die Verantwortung übernommen. Die Tragbahre, an die er gefesselt ist, steht für die Unbeweglichkeit dieses Mannes.
 
In diese Situation hinein spricht Jesus ein Wort. Es ist kein leeres Wort, sondern ein wirk - mächtiges Wort, das diesen Menschen offenbar in seinem Innersten erreicht: „Deine Sünden sind dir vergeben!“
 
Das bedeutet: Du bist nicht gebunden an dein Versagen, an deine Ängste, an deine Schuld. Dir ist in deinem Leben Raum gegeben, den du gestalten kannst und sollst. Das Leben ist nicht vorbei für dich, selbst nicht mit diesen niederdrückenden Erfahrungen, die dich belasten. Es gibt einen Neuanfang. Dieser Neuanfang wird dir hier zugesprochen.
 
In diesem Vergebungswort schafft Jesus Leben neu. Es ist wie eine Wiederholung des Schöpfungsgeschehens, das uns auf der ersten Seite der Bibel begegnet. Dort wird über Gott, über den Schöpfergott ausgesagt: „Er sprach... es werde Licht. Und es ward Licht. Es werde Erde, es werde Wasser, Pflanzen... und es geschah. Es werde der Mensch... und so war es“ (Gen 1). Mit seinem Wort hat Gott Leben geschaffen, Neues hervorgebracht.
 
Das erleben wir in diesem Heilungsevangelium durch Jesus: Schöpfung, Neuschöpfung eines Menschen. „Deine Sünden sind dir vergeben!“ - ein Schöpfungswort, in dem Jesus mit Autorität, mit göttlicher Autorität einen Menschen wieder zum Leben ruft.
 
Dieses Wort wirkt. Indem Jesus den Mann direkt anspricht und ihn aufruft: „Steh auf! Nimm deine Tragbahre und geh umher!“ macht er ihm seine Lebensmöglichkeiten bewusst. Er erlaubt ihm nicht mehr, in dem alten Selbstbewusstsein zu verweilen. Ihm wird zugesagt: „Sei dir deiner Lebensmöglichkeit bewusst, die aus Gottes Lebenswillen entspringt. Du bist nicht reduziert auf deinen kleinen Raum der Enge und der Angst. Es gibt etwas, was dich über deine Grenzen hinausführen will. Steh auf! Nimm deine Tragbahre und geh!“
 
Natürlich gibt es auch körperliche Begrenzungen, Schwäche, Krankheit, die zum Lebensprozess dazu gehört und die auch durch dieses Wort „Steh auf!“ nicht aufgehoben werden kann. Aber auch in einer solchen Situation hat dieses Wort seine Bedeutung und seine Kraft. Auch da, wo Krankheit und Schwäche den Menschen bleibend behindern gilt dieses weitende Lebenswort Jesu. Auch da gilt die Zusage, dass Gottes Vergebungswort Räume schafft, eine Weite schafft, die weit über die Erfahrung von innerer Enge und Begrenztheit eines Menschen hinausreicht. Die Neuschöpfung Gottes, wie sie in Jesus sichtbar wird, geht über die Begrenzungen des Körpers hinaus.
 
Die  Zusage Jesu nimmt nicht die Erfahrung von Versagen, Schuld, Angst. Sie wird zum Leben dazu gehören, bleibend. Und es ist wichtig, sich das auch bewusst zu machen, sich dieser Erfahrung zu stellen, sich mit ihr auseinander zu setzen. Aber wenn ich dem Wort Jesu glaubend die Kraft zuspreche, von der im Evangelium erzählt wird, kann ich sie anders in mein Leben integrieren und sie als Herausforderung für meine Zukunft annehmen.
 
Liebe Gemeinde! Vermutlich haben viele von uns, vielleicht sogar jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Versagen, Schuld, Angst das eigene Leben bedrängen, dass wir selber „gelähmt“ gewesen sind. Es ist wichtig, sich solche Erfahrung immer wieder bewusst zu machen und sich selber einzugestehen, dass sie Teil unseres Lebens sind.
 
Wo sind die Orte, wo wir dann ein solches Wort hören können: „Deine Sünden sind dir vergeben. Steh auf! ...“ Sicher da, wo wir Menschen begegnen und erleben dürfen, die uns in solchen Situationen aufrichten, die uns Mut zusprechen, helfen. Die Erfahrung der  Gegenwart Gottes wird in dieser Welt, oft durch sehr konkrete Menschen vermittelt.
 
Und es gibt auch das wunderbare Sakrament der Versöhnung, die Beichte. Dort wird uns im liturgischen Vollzug auf die eigene Person hin diese mutmachende Wirklichkeit zugesprochen: „Deine Sünden sind dir vergeben. Steh auf und geh umher!“
 
Amen
 
Harald Fischer