29. März 2009, 4. Pauluspredigt in der Fastenzeit
Paulus - seine Kreuzestheologie


Lieber Gemeinde!

In Paulus begegnet uns der große Völkerapostel schlechthin. Ohne ihn wäre das Christentum vielleicht eine kleine jüdische Sekte in Palästina geblieben. Die Grundlage seines Missionseifers war die große Wende seines Lebens: sein Damaskuserlebnis, in dem ihm die Offenbarung des Auferstandenen zuteil wurde.

Was hat ihn bei diesem Erlebnis so entscheidend gepackt, dass er sich so deutlich von seiner eigenen Tradition entfernen musste, dass aus dem Neuen schließlich das Christentum als neue Religion entstanden ist? Was ist Paulus vor Damaskus eigentlich so neu und radikal aufgegangen, dass es ihn buchstäblich "vom Pferd gehauen" hat?
Es war die Erfahrung, dass ihm der gekreuzigte Jesus als Auferstandener begegnet ist! Diese Gegenüberstellung von Kreuz und Auferstehung ist die Revolution seines Lebens.

Ein Gekreuzigter galt in der Tradition, die Paulus seit seiner Kindheit verinnerlicht hatte, als ein von Gott verfluchter. Es war nicht nur ein schmachvoller Tod und der Verlust eines Lebens, wie  heute Hinrichtungen erlebt werden. Der Gekreuzigte war gleichzeitig einer, der bei Gott alle Rechte verwirkt hatte und von ihm selber verflucht war. Die Kreuzigung hatte eine religiöse Dimension. Im Gesetz Israels, in der Thora, in der jüdischen Bibel  heißt es ausdrücklich: „Verflucht ist, wer am Pfahl hängt.“ (Dtn). Und das galt und gilt als Wort des allmächtigen Gottes.
Mit dem Kreuzestod war all das, was zu dem Leben des Betreffenden gehörte, ausgelöscht, vernichtet: nicht nur sein physisches Leben, sondern gerade auch die von ihm gelebten Werte, seine Botschaft.
Deshalb war Jesus als Gekreuzigter für Paulus - in seiner ursprünglichen Sichtweise, in seiner alten Tradition - ein von Gott verfluchter.

Und der begegnet ihm als Auferstandener. Ausgerechnet in ihm zeigt sich der Gott, dem Paulus mit seinem ganzen Leben dienen wollte.
Paulus erfährt das Kreuz nicht mehr als Zeichen des Fluches, als Ausdruck dafür, von Gott getrennt zu sein. Das Kreuz ist ein Zeichen der Offenbarung Gottes.

Das ist für Paulus eine Revolution. Es vollzieht sich für ihn ein ungeheurer Wandel in seiner Sichtweise. Zum einen: Es gilt nicht mehr einfach das, was immer gegolten hatte. Der Weg zu Gott ist nicht mehr nur der, der in der alten Tradition vorgegeben ist. Es gelten nicht mehr nur die alten Erfahrungen und die Befolgung aller Vorschriften. Die verweisen - so erkennt Paulus - letztlich doch nur auf mich selbst: auf meinen Willen, auf mein Können und Versagen, auf meine Anstrengungen und Scheitern. Auf diesem Weg bleibt man in der Gefahr, letztlich doch sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Im Blick auf den Gekreuzigten, der auch gleichzeitig der Auferstandene ist, erkennt Paulus: Gott zeigt sich nicht nur im Gelingen, sondern auch im Scheitern,
er zeigt sich nicht nur in meiner Stärke, sondern auch in meiner Schwäche,
er zeigt sich nicht nur im eifernden und glaubensstarken Paulus,
sondern erst recht und in ganzer Fülle im gescheiterten und gekreuzigten Jesus.
Das ist der Kern der „Rechtfertigungstheologie“, wie die Theologie diese Glaubenseinsicht des Paulus nennt: Gottes Gnade schenkt sich nicht aufgrund meiner Stärke und Anstrengung; sie schenkt sich im Glauben an Jesus Christus, den Gekreuzigten.

Paulus hat in seiner Botschaft zwei zentrale theologische Themen, die er auf verschiedene Weise immer neu seinen Gemeinden - und uns - zusagt:
- die von Gott geschenkte Gnade, die im Glauben angenommen wird
- und die Bedeutung des Kreuzes Jesu, in dem sich Gottes unverdiente Gnade für die Menschen offenbart.
Der Mittelpunkt all seines Glaubens, Denkens und Handelns aber ist das Kreuz Jesu Christi:
„Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1, 22 - 25). 
Und: „Ich will nichts anderes kennen als Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2).

Hier entfernt Paulus sich entscheidend aus seiner alten Denkwelt. Das Kreuz ist in seiner alten Tradition eher ein Gegenzeichen, ein Zeichen, dass Gott sich verborgen hält. In seiner Tradition war es undenkbar, Gottes Schwäche anzuschauen. Und das ist ganz sicher auch für uns heute immer noch die entscheidende Herausforderung.
Gott durchkreuzt die alte Vorstellung von Paulus über seine Gesetzestheologie und Messiasvorstellung.
Gott durchkreuzt die heidnische Weisheit, nach der der Mensch sein Leben allein selbst bestimmt, völlig autark und unabhängig.
Gott durchkreuzt aber auch ein triumphales Christentum, das sehr schnell - damals wie auch heute immer wieder - dem Weg des Kreuzes ausweichen und nur den verherrlichten Christus sehen will.
Gott durchkreuzt das Pochen des Menschen auf sein eigenes Machen, auf eigene Werke, auf eigene Verdienste. Und er durchkreuzt das Sich - selbst - rühmen des Menschen.

Paulus hat diese Erfahrung auch ganz persönlich in seinem eigenen Leben machen müssen:
Gott hat auch sein Leben durchkreuzt: In seiner Krankheit, unter der er gelitten hat, in seiner Unfähigkeit zu reden, in seiner unansehnlichen Gestalt,  in der Erfahrung der eigenen Schwäche, in all den Leiden und Verfolgungen, die er erleben musste. All diese Erfahrungen hat ihm der Glaube nicht genommen. Im Gegenteil: der Glaube ist für vieles sogar die Ursache gewesen.

Gott durchkreuzt das Leben. Aber das ist nur die eine, die schmerzhafte Seite, die uns oft dunkel und schwer erscheint.
Die andere ist, dass durch das Kreuz neues Leben geschenkt ist; dass wir Anteil haben an der Auferstehungswirklichkeit Jesu Christi.
Im Kreuz Jesu erfahren wir die Entmachtung der Angst, nicht genug getan zu haben; wir erfahren die Gnade der Liebe Gottes. Gott liebt uns nicht, weil wir gut sind, sondern damit wir gut werden.
In Christus durchkreuzt und entmachtet Gott alles, was tötet: das Fleisch, so sagt Paulus. Wir würden heute vielleicht formulieren: die Selbstsucht. Das Kreuz entmachtet den Leistungszwang, die Angst vor dem Scheitern und die Angst, nicht gut genug zu sein.
Und Gott schenkt im Kreuz, was lebendig macht: den Geist, die Freiheit Jesu, den Segen der Verheißung, die Sohnschaft, das Leben, das ewige Leben.

Im Kreuz Christi werden wir zur neuen Schöpfung verwandelt. Der Herrschaftswechsel ist bereits vollzogen, aber noch ist unser Glaube angefochten. Die Vollendung steht noch aus. Aber wir dürfen sie jetzt schon feiern: im Wort und im Sakrament, in dem uns der Gekreuzigte und Auferstandene begegnet.

Amen.
 
Harald Fischer