01. 09. 2007, 22. Sonntag im Jahreskreis
Lk 14,1.7-14
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Die Bibel ist ein realistisches Buch. Nüchtern, illusionslos nimmt sie den Menschen wahr und beschreibt sein Leben, wie es ist. Die Bibel ist nicht frömmelnd und weltfremd. Sie macht sich nichts vor. Sie beschreibt das Leben vermutlich oft direkter und deutlicher, wie wir es selber erkennen können.
 
Jesus ist ein nüchterner Mensch. Wie er seine Zeitgenossen beobachtet und wahrnimmt, wie er es wagt, seine Wahrnehmungen auszusprechen, das ist beeindruckend.
 
Mir geht es manchmal so, dass ich Verhaltensweisen bei Menschen sehe, die mich ärgern oder befremden, die ich unpassend oder störend finde. Oft versuche ich dann, taktvoll und freundlich darüber hinwegzusehen. Entweder fürchte ich mich davor, dass es Ärger geben könnte, wenn ich meine Wahrnehmung anspreche, oder es ist mir einfach peinlich, oder ich denke: es bringt ja doch nichts. Oder ich sage mir: „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Du bist ja auch nicht besser!“
 
Jesus ist eine starke Persönlichkeit. Er geht offen mit dem um, was er sieht und denkt und er hang keine Angst, offen zu konfrontieren. Das muß man erst mal fertig bringen: in einer Festgesellschaft so aufstehen und so zu reden: „Als er bemerkte, wie sich die Gäste die Ehrenplätze aussuchten, nahm er das zum Anlaß, ihnen eine Lehre zu erteilen.“ (V.7). „Dieser Besserwisser“, werden vielleicht manche gedacht haben. Freunde hat ihm diese Belehrung sicher keine gebracht.
 
Aber seine Motivation war nicht, die Menschen zu beschämen. Ganz im Gegenteil. Er wollte das Reich Gottes verkünden und sichtbar machen und damit die Frohe Botschaft in eine bedrängende menschliche Wirklichkeit hinein sprechen.  Unsere Maßstäbe und Gottes Wirklichkeit stehen immer wieder in scharfer Konkurrenz zueinander.
 
Wie mühsam ist es, wenn wir unser Leben, unseren Lebenswert immer wieder von uns und unseren Leistungen abhängig machen! Das was die anderen von uns denken und welchen Wert wir in ihren Augen haben, bestimmt unser Lebens- und Wertgefühl. Wir sind, was die anderen von uns denken. Die Diskussion um die Dopingvergehen im Radsport sind ein aktueller gesellschaftlich sichtbare Ausdruck dieses Themas. Nur Zweiter zu sein, hieße schon, verloren zu haben und Versager zu sein.
 
Im Alltag der meisten Menschen macht sich das selbe Thema sichtbar, wenn auch auf andere Weise. Die ständige Konkurrenz, die Eifersucht, der persönliche Vergleich mit den angeblichen Vorzügen der anderen, die mir selber fehlen, all das prägt immer wieder das Leben sehr vieler Menschen.
 
Dieses Thema, diese Last unter der so viele leiden, greift Jesus in seiner Belehrung auf.
 
In seinem Wort wird uns sichtbar: Vor Gott muß ich mich nicht erst groß machen.
 
Ihm genüge ich so, wie ich bin.
 
Ich muß meine Energie nicht investieren, um irgend etwas aufzublähen und zu zeigen, was doch nicht zu mir gehört und von mir nicht abgedeckt werden kann. Gott genüge ich so, wie ich bin.
 
Das sind fromme Worte, die in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Wir können das hier im geschützten Raum der Kirche hören, es als Wort des Evangeliums wahrnehmen und es uns in der Predigt zusagen. Aber die Nachbarn, der Arbeitgeber, oft genug auch die eigenen Freunde wollen, dass ich ihrem Bild entspreche, dass ich erfolgreich bin, schöner, klüger, reicher, besser als die anderen. Erst dadurch wird man doch interessant.
 
Ja, das stimmt. Es ist Arbeit und nicht selbstverständlich, diese Botschaft vom Reich Gottes zu verstehen und zu glauben. Unsere Welt hat andere Maßstäbe. Unsere Gesellschaft funktioniert mit anderen Werten. Der Verdienst und die gesellschaftliche „Anerkennung“ orientiert sich nicht an diesem Evangelium.
 
Darum ist es ja auch nötig, dass wir „erlöst“ werden, dass uns die Frohe Botschaft, dass uns das Evangelium zugesprochen wird. Es ist nicht selbstverständlich, was wir glauben. Wir gehören zu einer Alternativgesellschaft, die auf anderen Werten aufgebaut ist, als auf denen, die uns so selbstverständlich erscheinen und an die unsere Gesellschaft glaubt. Diese Alternativgesellschaft versuchen wir in der Kirche, in unserer Gemeinde zu leben, auch wenn wir natürlich auch hier immer wieder erfahren, wie brüchig das ist und wie schwer es uns oft fällt. Aber hier, in der Gemeinde, in unserer Kirche begegnet uns dieses Wort, dieser Zuspruch. Hier finden wir die Gemeinschaft derer, die zumindest versuchen, diese anderen Wahrheiten aufzunehmen, nach ihnen zu leben, sie zu verstehen. Die Kirche, die Gemeinde, unsere Gemeinde ist der Ort des Lernens.
 
Wenn ich diesen unbedingt Wert, den Jesus uns zuspricht,  im Blick auf mich vielleicht auch noch nicht glauben kann, gibt es einen Lernweg, den er uns zeigt. „Wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten.“ (V. 13 f.).
 
Kontakt mit denen aufnehmen, die in den Augen dieser Welt wertlos sind, sie erkennen, sie ansehen, ihnen An – sehen verschaffen, so können wir lernen, in ihnen Gottes Ebenbild zu erkennen und die Wahrheit des Reich Gottes eher verstehen zu lernen.
 
Und über die Wertschätzung dieser Menschen können wir auch  die eigene Wertschätzung neu lernen.
 
Amen
 
Harald Fischer