17. 6. 2007, 11. Sonntag im Jahreskreis
Lk 7, 36 - 50
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Wenn das Datum 11. September genannt wird, hat jeder sofort bestimmte Bilder vor Augen. Wir erinnern uns an brennende Türme, an die Flugzeuge, die in sie hinein rasen, an Menschen, die aus Verzweiflung aus großer Höhe in den Tod springen.
 
Wislawa Ssymborska, eine polnische Schriftstellerin, beschreibt in einem Gedicht die bekannten Fotos dieser Katastrophe:
 
„Jeder ist noch ein Ganzes
mit eigenem Gesicht
und gut verstecktem Blut...
Noch ist Zeit genug,
dass die Haare wehen
und aus Taschen Schlüssel,
kleine Münzen fallen.
Zwei Dinge kann ich für sie tun –
Diesen Flug beschreiben
Und den letzten Satz nicht hinzufügen.“
 
Den letzten Satz nicht hinzufügen!
 
Niemand hat etwas davon, wenn die Grausamkeit und die Katastrophe bis ins Detail beschrieben wird. Jeder weiß, was kommt. Wislawa Ssymborska erweist den Opfern die Ehre, wenn sie im Vorletzten verharrt, denn: „Jeder ist noch ein Ganzes...“
 
Den letzten Satz aussparen. Das erweist sich häufig als ein Werk der Barmherzigkeit.
 
Wie viele Auseinandersetzungen, wie viele Ehekonflikte, wie viel an Klarstellungen würde an Schärfe, an Verletzungen vermieden, wenn man „den letzten Satz“ nicht hinzufügen würde! Gerade mit dem „letzten Satz“ will man oft noch einmal „unmißverständlich klar stellen, „ein für alle mal“ etwas sichtbar machen. Der „letzte Satz“ bringt oft eine Schärfe, eine Kränkung in einen Konflikt, der es schwer macht, ihn wieder zu bereinigen.
 
Auch in Glaubensauseinandersetzungen ist die Versuchung groß, einen letzten, absichernden Satz noch hinzuzufügen, mit dem man die endgültige Klarstellung, die letzte Abgrenzung noch einmal sichtbar machen will. Scheinbar dient er der Eindeutigkeit und der Vergewisserung - und ist doch oft nichts anderes, als Ausdruck der Aggression und der eigenen Unsicherheit und Angst.
 
Den letzten Satz auszusparen - aus Barmherzigkeit und Liebe - ist eine anspruchsvolle Übung, die  herausfordert.
 
Es gibt auch gute, fruchtbringende letzte Sätze. Es sind die Kernsätze der Evangelien. Wenn Jesus mit den Menschen redet, dann ist das in der Regel ein öffnender Satz, der Leben aufzeigt und Perspektiven vermittelt. Seine Sätze, seine „letzten Sätze“ sind nicht verurteilend, ab - urteilend sondern menschlich, farbig, lebensnah, öffnend.
 
Im Evangelium des heutigen Tages wird uns gezeigt, wie der Pharisäer Simon über die Frau denkt, von der Jesus sich die Füße salben läßt: „Er, Jesus, wüßte, was das für eine ist...“. Für ihn ist sie kein Mensch, der das Recht hätte, in seiner Gesellschaft zu sein. Er spricht ihr die Würde ab, das Recht, zu existieren.
 
Die Frage, die Jesus an ihn richtet, ist buchstäblich zu nehmen: “Simon, siehst du diese Frau?“ Man könnte zunächst sagen: Was soll diese Frage? Natürlich sieht er sie! Seit sie im Raum ist, bestimmt sie die Situation und seitdem sieht Simon nichts anderes mehr und seitdem beschäftigt er sich innerlich mit ihr.
 
Und doch stimmt die Frage. Gerade deshalb stimmt sie. Siehst du diese Frau, Simon? Siehst du sie wirklich? Mit ihrer Geschichte? Mit ihrer Sehnsucht? Mit ihrem Schmerz? Oder siehst du nur deine Vorstellung von ihr? Dein Urteil? Dein Vor - Urteil?
 
Jesus jedenfalls sieht eine andere Dimension an ihr. Er nimmt die Frau wahr. Er nimmt sie als Mensch war. Und er spricht ihr Leben, Zukunft zu. „Ihr sind viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat.“  Er spricht ihr ein Wort zu, das Zukunft öffnet, das Leben ermöglicht. Er sieht die Wahrheit  ihres Lebens, wie immer sie auch gelebt worden ist, vielleicht  auch, in welcher Verdrehung sie zum Ausdruck gekommen ist.
 
Jesus sieht ihr Menschsein  - und er bringt es in seinem Wort zum Ausdruck.
 
Unsere Sätze, die ersten wie die letzten, können töten oder aber Leben schenken.
 
Wohl dem, der Leben spendende Sätze hört und sie weiter spricht.
 
Amen
 
Harald Fischer