Ansprache zum Abiturgottesdienst der Engelsburg am 10.06.2011
Mt 6, 19-33

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Liebe Eltern!
Liebe Gäste!

Die moderne neutestamentliche Forschung hat ermittelt, dass die Worte, die Chu-Hee uns eben vorgetragen hat, zu den ipsissima vox, also zu den ureigensten Worten und Gedanken Jesu gerechnet werden können; Matthäus hat sie im Rahmen seines Evangeliumskonzeptes in die Bergpredigt Jesu eingefügt. Und die wiederum führt uns in ihrem gesamten Gedankengut in die Mitte des Glaubens und der Spiritualität des historischen Jesus. Man kann also sehen: In der Feier eures Abschieds von der Engelsburg hier im Gottesdienst, liebe Abiturienten, geht’s euch noch einmal um die Wurzel der genuin jesuanischen Spiritualität.
Was könnten diese Worte Jesu meinen, und was könnten sie uns heute sagen? Ich möchte zunächst drei Gedanken an euch Abiturienten richten – natürlich auch an alle anderen hier im Gotteshaus, aber die ersten drei Gedanken vornehmlich an euch; der vierte, letzte Gedanke richtet sich dann mehr an Sie, die Eltern, aber da dürfen die andern auch gerne zuhören…

Ein erster Gedanke: Die Worte Jesu von der falschen und der rechten Sorge atmen einen nüchternen Realismus, nämlich: Es gibt nichts Verlässliches auf dieser Welt, es gibt nichts, was mein Leben sicher macht, erfolgreich werden lässt, was sicher zum Glück führt: „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben verlängern?“, fragt Jesus. Es gibt auch nichts, was ich festhalten könnte, den glücklichsten Augenblick nicht, auch nicht den intensivsten Liebensmoment. Der Ausgang von allem, was ich jemals tue, was ich entscheide, meine Lebenszusagen an Menschen, meine Versprechen – der Ausgang von all dem ist ungewiss! Alles, was in dieser Welt jemals verspricht zu tragen, ist fragil, es zerbricht spätestens im Tod. Das hört sich pessimistisch an – ist das Pessimismus? Oder gar Resignation? Keineswegs! Es ist der biblische Realismus, der die Augen öffnet, der sehen lässt, was es mit dem Leben wirklich auf sich hat, wo es z.B. mehr verspricht, als es je einzulösen vermag. Dass wir umstellt sind von Werbung, die den Mund immer zu voll nimmt, uns täuscht über die realen Begrenzungen des Lebens, ist nur einer von vielen möglichen Hinweisen. „Sammelt euch nicht Schätze, die Motte und Wurm zerstören, die Diebe stehlen…“, so hört sich das an im Mund Jesu. Dieser Realismus erzieht mich, das Leben und damit die Menschen nicht zu überfordern mit meinen Wünschen und Sehnsüchten. Er ist befreiend, weil er ent-täuscht, er entlastet mich von der falschen Sorge, er macht meine Erwartungen realistisch.

Ein zweiter Gedanke: Die Worte Jesu bringen einen tiefen Argwohn zum Ausdruck gegenüber Machbarkeitswahn und Bemächtigungswahn. Die Machermentalität, der Zwang zum Siegen stehen hier zur Diskussion. „Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren“, sagt Jesus. Ist das pessimistisch, lebensverneinend, wirtschaftsschädigend? Das letzte vielleicht. Vielmehr aber ist es ein Plädoyer für die Einfachheit, für die Langsamkeit, für die Geduld. Tugenden also, die in unserer leistungsorientierten, hochbeschleunigten Wirtschaftswunderwelt unter dem Verdacht stehen, Entwicklung zu hemmen, den Betrieb aufzuhalten, kontraproduktiv zu sein. Und in der Tat: Das Evangelium ist auf das Kapital nicht gut zu sprechen, es sieht in ihm eine Gefahr, das Leben Zwecken zu opfern, Beziehungen zwischen Menschen zu funktionalisieren, auch zu instrumentalisieren, Macht, Einfluss und Bedeutung von materiellen Besitzverhältnissen abhängig zu machen. „Du kannst nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon.“ Ihr bemerkt vielleicht, liebe Abiturienten, wie politisch die Bergpredigt ist, wie politisch Jesus war und ist. Übrigens: Einer von vielen weiteren Gründen, die Stimme des Propheten aus Nazareth nicht auf lautlos zu stellen…

Den dritten Gedanken möchte ich mit einer Frage beginnen: Gibt es einen Menschen in meinem Leben, der um mich weiß, nicht irgendetwas von mir weiß, sondern weiß – um mich? Ist mir ein Mensch so nahe, dass er weiß, was mir fehlt? Was ich suche? Was mir Angst macht? Kann ich mich so öffnen und durchsichtig machen, dass ein Mensch um mich weiß? Dass ich mich in seinem Wissen um mich nicht bedroht fühle, sondern mich darin bergen kann, sicher fühlen kann und aufgehoben? Wenn Jesus auf unser rastloses, unruhiges Sorgen entgegnet: „Euer himmlischer Vater weiß…“, dann will er zuerst zum Ausdruck bringen, wer für ihn Gott ist: Der bergende Grund; der sichere Hort; Ort des Ausatmens; Einladung, sich aus der Verkrampfung zu lösen, der Macher zu sein, die Kontrolle zu behalten; Ort, wo ich sicher sein kann, sicher vor allem vor mir selber.
Kann ich mich in diesen Ort bergen, den Jesus den „himmlischen Vater“ nennt? Mit dieser Frage sind wir endlich angekommen bei der Wurzel – lateinisch heißt Wurzel „radix“; das Wort „radikal“ ist daraus entnommen. Es wird also radikal jetzt, es scheint um das Leben, um mein Leben selbst zu gehen. Also um die Frage: Kann ich ein restloses Vertrauen wagen?
Ich belasse es bei den Fragen. Ich wünsche euch, liebe Abiturienten, dass ihr mit eurem Leben eine Antwort geben lernt auf diese Frage. Ich halte sie für die entscheidende; sie führt zum Grund des Lebens, wobei ich das Wort „Grund“ hier im doppelten Sinn verstehe.

Der letzte, der vierte Gedanke gilt Ihnen, liebe Eltern. „Sorgt euch nicht…“, sagt Jesus. Welche Bedeutung könnte dieses Wort im heutigen Kontext annehmen? Ihre Kinder verlassen heute die Schule, für immer; bald auch Ihr Haus, die meisten jedenfalls; nicht für immer, aber doch mit dem Ziel, immer mehr ihr eigenes Lebenshaus zu bauen. In seinem kleinen philosophischen Bändchen „Der Prophet“ lässt der Autor Khalil Gibran einen Weisen auf Eltern zutreten und sagen: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder… Sie kommen durch euch, aber nicht von euch… Und sind sie auch bei euch, so gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken. Denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Leib behausen, doch nicht ihre Seele… Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile entsandt werden.“ Radikale, wahre Worte und Gedanken. Wie sie leben? In welchem Vertrauen? „Sorgt euch nicht, euer himmlischer Vater weiß…“ Es scheint, als kämen heute nicht nur Ihre Kinder, sondern auch Sie selbst als die Eltern auf den Prüfstand; gut, dass dies hier in der Kirche geschieht, in dieser Andacht. Jesu Vertrauen in den unbedingt tragenden Grund seines Lebens, den er „unser himmlischer Vater“ nennt, will Ihnen Mut machen, im Loslassen Ihrer Kinder erneut das Wagnis des Vertrauens einzugehen. Natürlich werden Sie immer wieder halten müssen, auch aushalten; und immer wieder auch loslassen, gerade jetzt immer ein wenig mehr. Loslassen können Sie aber Ihre Kinder nur, wenn Sie selbst sich gehalten wissen – ansonsten müssten Sie sich an ihren Kindern festhalten. Aber woran könnten Sie sich selbst festhalten? An nichts weiter als an dem, woran sich der Jesus der Bergpredigt festhielt, auch in seinem letzten, radikalsten Abschied, seinem eigenen Sterben. Beten wir, dass Gott uns die Kraft schenken möge, nicht dem Sorgen anheim zu fallen, sondern sich anvertrauen zu können dem Glauben Jesu“: „Euer himmlischer Vater weiß…“

Amen.

Otmar Leibold