Karfreitag 2007
 
Gibt es einen größeren Einwand gegen den Glauben, gibt es einen größeren Einwand gegen die Rede von einem allmächtigen Gott, gegen die Rede von einem liebenden Gott als die Erfahrung des Leids?! Wie kann man an einen Gott glauben, wenn so etwas, wie wir es gerade in der Passionserzählung gehört haben, möglich ist? Möglich ist - nicht nur einmal, an dem Menschen Jesus von Nazareth, sondern immer wieder, tagtäglich?
 
Unsere Welt hat Wunden und schreit. Gott selbst ist verletzbar und schreit. Gott hat sich verwundbar gemacht.
 
Da sind die kleinen Wunden: die spürbare Herabsetzung, weil ich nicht so aussehe, wie die anderen. Das böse Wort, das so verletzt und mir einfach nicht aus dem Kopf geht. Mein Vertrauen, das so bitter enttäuscht wurde.
 
Da sind die entsetzlich großen Verletzungen, die es auch in Deutschland gibt. Ein Serienmörder, der in Kassel einen jungen Mann erschießt. Den 9. in einer Reihe und keiner weiß, warum. Zwei Männer, die einen Elfjährigen erwürgten und seine neunjährige Schwester mehrfach vergewaltigen, bevor sie auch sie ermorden. Ein Student, der aus Habgier einen elfjährigen Jungen erstickt. Ein Autounfall, bei dem drei junge Menschen ums Leben kommen.
 
Und da sind die großen Wunden unserer Welt: die Kriege; in denen Menschen von Bomben zerfetzt werden. Die Flüchtlinge, die hin und her getrieben werden von marodierenden Banden. Die Schuldenkrise, die so vielen Ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika keine Entwicklungschance gibt. Die Kindersoldaten, die brutal zum Waffengebrauch gezwungen werden. Der Hunger, dem täglich Tausende zum Opfer fallen.
 
Wir sehen die Verwundung der gequälten Kreatur, die nach Erlösung seufzt. Wir hören den Schrei Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22).
 
Wunden der Menschheit, ja und wohl auch Wunden Gottes. Schreie, die durch die Welt hallen. Der Schrei auch nach Gott: Wo bist du Gott? Wie kann Gott das zulassen? Können solche Wunden heilen?
 
Zuallererst ist angesichts solcher Verletzungen wohl Schweigen angesagt. Das Entsetzen, das uns ergreift, wenn wir die Opfer unserer Welt ansehen, kann nicht mal irgendwie erklärt oder gar eingeordnet werden. Solche Erklärungen müssen banal klingen. Die Schreie, die Klage, das Schweigen des Karfreitags und des Karsamstags haben ihr eigenes Recht. Klage und Schweigen - die Reaktion des Karfreitags und des Karsamstags.
 
Und wir schauen heute auf Jesus von Nazareth. Aber wir sehen ihn heute nicht als Heiler oder Prediger. Wir sehen ihn heute als Opfer. Als zerrissenen und geschundenen Menschen.
 
Was ist das für ein Gott, der uns diesen Menschen vor Augen stellt. Was ist das für ein Gott, den wir auf diese Weise erkennen sollen, ihn so kennen lernen sollen?
 
Gott, der als Kind zur Welt kommt! Was für eine Provokation: Jeder und jede, die das Zusammenspiel von Schmerz und Hoffnung während einer Geburt erlebt hat, ahnt etwas von der Dimension dieser Provokation.
 
Gott, der qualvoll am Kreuz stirbt! Muss Gott nicht ein starker Held sein, der alle besiegt? Oder einer, der über allem steht? Können wir an einen ohnmächtigen Gott glauben - oder ist das nicht geradezu lächerlich?
 
Die Geschichte von Jesus Christus fordert uns dazu heraus, die Allmacht und die Ohnmacht Gottes zusammenzudenken. Dietrich Bonhoeffer schreibt in einem Brief aus der Haft: „Gott lässt sich aus der Welt hinausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und nur so ist er bei uns und hilft uns.“
 
Die Liebe ist verletzlich, verwundbar, aber sie ist auch stärker als der Tod.
 
Nur - das wissen wir heute, am Karfreitag, noch nicht. Aber von dieser Verheißung, von der Hoffnung auf Ostern hin, leben wir. Auch heute, am Karfreitag. Dem Gott, der so offenbar geworden ist, der auch das Leiden nicht gescheut hat, dem dürfen wir vertrauen, an ihn glauben und uns ihm mit all unseren Verwundungen und Verletzungen überlassen. Das hat Jesus Christus verkündigt und dafür ist er gestorben. An diesen Gott halten wir uns, das ist unser Heiland.
 
Der Karfreitag lehrt uns, dass wir uns Gott anvertrauen müssen - ganz und rückhaltlos. Jesus lehrt uns dieses Vertrauen, das aus dem Schrei der Gottverlassenheit zurückgefunden hat zum Gottvertrauen. Der Ps 22 beginnt mit der Klage: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und endet mit dem Lobpreis der Geretteten: „Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet; ehrt ihn, ihr alle vom Haus Israel! Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend der Armen und sein Antlitz nicht verborgen; und als er zu ihm schrie, hörte er es“ (Ps 22,24 - 25).
 
Jesus betet am Kreuz: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ (Lk23,46). Das ist kein schneller Weg. Das ist ein Weg über Kreuz und Tod. Jesus geht mit Wunden in das Reich Gottes. Er wird Thomas später keinen makellosen Körper zeigen. Gerade an den Wunden werden ihn seine Jünger und Jüngerinnen erkennen.
 
Die Wunden bleiben. Das sehen wir noch heute am lebendigen Leib Christi. Die Freunde Jesu gewinnen ihr Gottvertrauen zurück, als Jesus durch die verschlossenen Türen durchbricht. Dieses Vertrauen wird möglich durch Gottes Geist, den er ihnen zusagt, den wir spüren können, wenn wir uns öffnen.
 
Nach diesem Vertrauen suchen wir. In diesem Vertrauen gehen wir mitten in einer verwirrten Welt unbeirrt unseren Weg als eine Gemeinschaft der Hoffnung, die glaubt, dass die Liebe Gottes stärker ist als Haß, Gewalt, Grauen und Tod.
 
Amen
 
Harald Fischer
(stark nach M.Käßmann, Erfüllt ist die Zeit S.54 ff)