11. Februar 2007, 6. Sonntag im Jahreskreis
Lk 6,17.20 - 26
 
 
Liebe Gemeinde!
 
„Eure Armut kotzt mich an!“ - Ein Aufkleber - gesehen an einem Porsche.
 
Man hält unwillkürlich den Atem an über so eine Unverfrorenheit,  über so viel Frechheit.
 
Man hat den Eindruck, dass sich in unserer Welt, in unserer Gesellschaft ein Bewußtsein, dass sich die Werte verschieben, langsam, fast unmerklich, aber dennoch deutlich.
 
Armut - das ist bisher nie nur ein rein statistischer Begriff gewesen, der Auskunft über einen Lebensstandard oder über ein Lohneinkommen geben würde. Es ist immer auch in gewisser Weise ein moralischer Begriff gewesen, in dem die Überzeugung mitschwang, dass Armut nicht sein soll, dass sie zu überwinden ist, vor allem aber auch, dass den Armen eine eigene Würde zukommt und sie wegen ihrer Armut nicht erniedrigt oder beleidigt werden dürfen.
 
„Eure Armut kotzt mich an!“ - das ist ein Ausdruck einer „nach - moralischen“ Zeit, in der sich das Bewußtsein von Recht und Unrecht verschleiert hat.
 
In einer solchen Zeit leben wir. Ob wir es wollen oder nicht: diese Atmosphäre hat ihren Einfluß - auch auf uns. Wir müssen uns mit einer „Geiz ist geil - Mentalität“ auseinandersetzen. Und wenn wir es nicht bewußt tun, hat diese Mentalität eben ihren unbewußten Einfluß auf uns.
 
Wir kommen als Menschen unserer Zeit zum Gottesdienst, als Menschen, die mit diesen Einflüssen konfrontiert sind. Und so begegnen wir dem Wort Gottes. 
 
Wenn wir das Evangelium hören, ist es oft Ermutigung, Trost, Hilfe, Stärkung für uns. Wir können Kraft aus diesem Wort gewinnen und uns an ihm aufrichten.
 
Aber das Wort Gottes ist auch Herausforderung. Es sagt uns nicht nur zu, was wir sowieso schon wissen oder was wir hören wollen. Dann wäre es nur Echo unserer eigenen Wünsche oder unserer eigenen inneren Stimmen. 
 
Das Wort Gottes vermittelt uns auch eine neue, eine andere Sichtweise auf das Leben, als die, die wir von uns aus sowieso schon haben. Sonst wäre es nicht „Offenbarung“, ein Wort eben, das „von außen“  an uns herantritt. Das Wort Gottes ist auch Herausforderung.
 
„Selig ihr Armen...“ heißt es heute im Evangelium. Und wenig später: „Weh euch, ihr Reichen...“
 
Wie hören wir dieses Wort? Als Herausforderung? Oder als Ermutigung?
 
Es ist nicht egal, wo und wie ich dem Evangelium begegne. 
 
Ich höre das Evangelium  als Porschefahrer mit dem Aufkleber anders, als wenn ich im Moment in Indonesien/Jakarta von Wasser- und Schlammmassen eingeschlossen bin und auf Hilfe warte. Ein „Hartz 4“ Empfänger oder einer unserer Freunde von der Straße, die draußen vor der Kirchentür auf eine milde Gabe von uns hofft, hört diese Worte anders, als z.B. ich selber, der ein gutes und sicheres Gehalt bekommt.
 
„Selig ihr Armen...! 
 
Im Matthäusevangelium heißt es an derselben Stelle wenigstens noch: „Selig, die arm sind vor Gott...!“. Da kann man das Wort schneller und unmittelbarer geistlich interpretieren.
 
Aber bei Lukas sind zunächst und vor allem die materiell Armen gemeint. Lukas schreibt für die Armen. Er ist geradezu der Evangelist der Armen. Er macht damit deutlich, dass das Evangelium immer auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Es beeinflußt die Art der Christen, die Welt zu sehen und in ihr zu leben. So hat das Evangelium auch eine politische Dimension und Konsequenz, die uns beschäftigen muß.
 
Liebe Gemeinde, wenn ich diese Aspekte benenne, dann nicht, um Ihnen oder mir den Zeigefinger vor die Augen zu halten oder uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber ich glaube schon, dass uns dieses Evangelium zu Fragenden machen muß, zu Fragenden und Suchenden nach den Konsequenzen dessen, was es heißt, wenn Jesus die Armen selig preist.
 
Selig die Armen, die Hungernden, die Trauernden, und selig die, die „um des Menschensohnes willen“ verfolgt sind.
 
„Selig, die Verfolgten um des Menschensohnes willen“ Hier führt Lukas eine Bezugsgröße in seine Seligpreisungen ein. Diese Bezugsgröße macht deutlich, dass ja nicht die Armut selig gepriesen wird. Es geht nicht darum, die Armut an sich zu verherrlichen. Sie soll ja geradezu überwunden werden. Nicht der Hunger, nicht die Trauer, nicht die Verfolgung sind Ziel der Betrachtung des Lukas, sondern die Armen, die Hungernden, die Trauernden, die Verfolgten, die Menschen also, die eine Mangelsituation erfahren und erleiden müssen.
 
Lukas preist die selig, die durch die Erfahrung eines Mangels hindurch den Blick auf den Urgrund des Lebens frei behalten. Der Mangel kann helfen, sich bewußt zu machen, dass ich allein mir nicht genügen kann. Wer Hunger hat, ist auf etwas anderes ausgerichtet. Lukas hofft darauf, dass der Arme, der Hungernde, der Trauernde auf das DU ausgerichtet ist, auf den anderen Menschen und noch mehr auf das DU, von dem alles andere her erst zum Leben kommt, auf Gott, den Quell allen Lebens selbst.
 
Die Weherufe, die sich an die Seligpreisungen anschließen, bezeichnen somit auch gleich die entgegengesetzte Situation. Nicht der Reichtum und die Freude an sich werden verteufelt, sondern die Gefahr, die damit verbunden sein kann, die Gefahr nämlich, dass Menschen in sich selbst verschlossen bleiben. Wer „satt" ist, im Sinn des Lukas, der ist in sich selbst verschlossen, er genügt sich selbst. Er ist nicht mehr offen für das DU, nicht für den anderen Menschen und erst recht nicht für Gott.
 
Wer jetzt „lacht“, den Anderen, den Armen „auslacht“, der sieht nicht mehr, was ihm selber fehlt und was ihn selber erst zum Menschen macht.
 
Selig, die Armen. Wehe den Reichen. Zwei entgegengesetzte Rufe. 
 
Wo finde ich mich wieder, wo bin ich angesprochen?
 
Vielleicht entläßt mich dieses Evangelium heute mit mehr Fragen als Antworten. 
 
Aber auch das kann ein Zeichen dafür sein, dass ich dem Wort Gottes mit meinem Leben begegnet bin.
 
Amen
 
Harald Fischer