3. Februar 2007, Darstellung des Herrn
Lk 2,21 -40
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Bevor wir miteinander das heutige Evangelium betrachten, möchte ich in Kürze etwas sagen zum heutigen Fest, das wir nachholend feiern, nämlich „Maria Lichtmess“.
 
Der Lichtmesstag, der eigentlich am 2. Februar begangen wird, hat ein biblisches Ereignis als Festanlass, von dem wir auch im Ev eben gehört haben: Weil das mosaische Gesetz vorschrieb, ein neugeborenes Kind innerhalb einer bestimmten Frist in den Tempel zu bringen, folgten - der Tradition nach - auch die Eltern Jesu dieser Vorschrift.
 
Dieses biblische Ereignis wurde zu einem christlichen Festanlass. In der Ostkirche wurde der Tag zu einem „Fest der Begegnung des Herrn”: Der Messias kommt in seinen Tempel und begegnet symbolisch dem Gottesvolk des Alten Bundes. Im Westen wurde der Festtag mehr als Marienfest gefeiert und auch entsprechend genannt: „Reinigung Marias”. Seit Anfang des 5. Jahrhunderts wurde in Jerusalem dieses Fest am 40. Tag nach der Geburt Jesu gefeiert. Zu dieser gottesdienstlichen Feier kamen später Kerzenweihe und Lichterprozession hinzu, wodurch sich der Name „Mariä Lichtmess” einbürgerte. Das hatte seinen Grund darin, dass an diesem Tag die für das nächste Jahr benötigten Kerzen der Kirchen und der Familien geweiht wurden, weshalb Wachsmärkte, eben Licht(er)messen, durchgeführt wurden. Seit der Liturgiereform in den 60-er Jahren wird dieser Tag wieder als Herrenfest gefeiert und führt den Namen „Darstellung des Herrn”.
 
Diese kurze Übersicht macht mehreres deutlich:
 
Wie tief unser christlicher Glaube und auch unsere liturgischen Feiern mit dem Judentum verwurzelt sind.
 
Wie sich unsere kirchlichen Feste in ihrer Bedeutung und in ihrer Festpraxis immer wieder gewandelt haben, im Lauf ihrer Geschichte und auch in den verschiedenen christlichen Konfessionen in West und Ost.
 
Der letztgenannte Aspekt zeigt in schöner Anschaulichkeit das eigentliche Verständnis des Wortsinns „katholisch“. Denn die unterschiedlichen Namen des Festes: „Maria Lichtmess“, „Reinigung Mariens“ oder „Darstellung des Herrn“, wie wir in der Westkirche sagen, oder in den Worten und der Bedeutung der Ostkirche „Fest der Begegnung des Herrn“ finden wir einen reichen geistlichen Schatz, um diesen Festtag in seiner religiösen Tiefe zu verstehen.
 
„Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein“ - diese Aufforderung aus dem heutigen Evangelium begegnet uns im ältesten Gesetzestext, den die Erste Bibel kennt.
 
Er schließt die älteste der insgesamt drei Exoduserzählungen der Bibel ab. Die Exoduserzählung handelt von der Freiheit, von der Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft. Wenn diese Erzählung über das Geschenk der Freiheit mit einem Gesetzestext endet, dann muss zwangsläufig der Sinn dieses Gesetzes mit Freiheit in Verbindung stehen.
 
Wie kann das sein? Was hat die Weihe der Erstgeburt an JHWH-Gott mit Freiheit zu tun?
 
Zunächst: Diese alte Aufforderung entsteht in einer Stammeskultur. Die Menschen leben in großen und mächtigen Familienclans miteinander, der Stammesälteste ist Häuptling und Richter und religiöses Oberhaupt in einer Person.
 
Er ist der „Patriarch“ der „Vater aller“, also ein „Abraham“, wie das hebräische Wort heißt Sein ältester Sohn wird einst der Nachfolger sein; er wird den Stamm führen, die alten Traditionen im Sinne der Väter weiterführen, den von den Ältesten überkommenen Gottesglauben bewahren sowie den Kult. Er wird über das Weh und Ach des Stammes entscheiden.
 
Und jetzt spricht JHWH-Gott dieses Gebot! Einen größeren, ja ungeheuerlicheren Bruch mit der eben genannten Tradition ist kaum vorstellbar!
 
Denn „Dem Herrn geweiht sein“ heißt: Allein Eigentum Gottes sein, allein Gott gehören. Das fällt schwer anzunehmen, denn in den alten Clangesellschaften der biblischen Zeit gehören die Kinder den Eltern, sie haben ihre Pläne mit ihnen, Heiratspläne, stammespolitische Pläne, berufliche Pläne. Die Kinder wurden damals lediglich als Empfänger einer Tradition angesehen, waren verpflichtet, die Ehre des Clans hochzuhalten, also verpflichtet, den elterlichen Auftrag zu erfüllen, die Ideen und Anliegen der Alten zu realisieren.
 
„Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn geweiht sein“ - dies erinnert auch an das Wort bei Jesaja: „Jetzt aber - so spricht der Herr, der dich geschaffen hat und der dich geformt hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir.“
 
Welche Verheißung, welche Erlösung liegt in diesem Wort?
 
Eine der größten Gefahren unserer hochmodernen, hochkomplexen Gesellschaft besteht vielleicht darin, sich selbst zu verlieren bzw. sich gar nicht erst zu finden, weil es so leicht ist, unmerklich in Abhängigkeit zu geraten: So viele Märkte interessieren sich für uns als Käufer, so viele Produzenten versuchen in uns Bedürfnisse zu wecken, Phantasien und Wünsche, so viele Ideen, Gedanken und Positionen, vorgetragen in unzähligen Talkshows und Interviews, wollen sich einschleichen in unsere Hirne, dass die eigene Originalität droht verloren zu gehen. Wie groß ist die Gefahr, unser Gesicht zu verlieren, unsere Träume und unsere Phantasie! Gott antwortet auf die älteste Angst der Menschen, auf die Angst nämlich, ihren Namen zu verlieren: „Bei deinem Namen habe ich dich gerufen.“
 
Ich gehöre niemandem, keinem Menschen, keiner Idee, bin nicht Diener einer Tradition, nicht unterworfen gesellschaftlichen, kirchlichen, familiären Zwängen. Ich bin von Gott bei meinem Namen gerufen - ich bin mit meinem gesamten Leben ihm geweiht, ich bin sein Erstgeborener. Ich bin frei.
 
„Ich habe dich ausgelöst“, sagt JHWH-Gott durch Jesaja. „Dem Herrn geweiht sein“ heißt: Ich gehöre Gott, ich höre zuerst und zuletzt immer auf Gott.
 
Kein Wunder, dass Lukas, nachdem er diese Geschichte von der Darstellung Jesu im Tempel erzählt, sofort die Geschichte anfügt, in der Jesus bei einer Wallfahrt entscheidet, nicht mit den Eltern ins Dorf zurückzukehren, sondern bei Gott im Tempel zu bleiben.
 
Wenn wir mit diesem Respekt miteinander umgingen, nämlich sich immer gewahr zu halten: Ich kann und darf mich des anderen nicht bemächtigen, nicht seines Willens, nicht seines Denkens, nicht seiner Absichten, nicht seiner Gefühle. Ich darf mich nicht zum Herrn machen über einen anderen Menschen, weil er nicht mein ist, weil er nicht mir gehört. Ich darf über niemanden verfügen, am allerwenigsten über meine Kinder.
 
An diesem letzten Festtag in der Weihnachtszeit lehrt uns das Evangelium die Freiheit, die Unverfügbarkeit jedes einzelnen Christenmenschen. Es zeigt uns, in welcher geistlichen Haltung wir mit unseren Kindern, miteinander, auch mit uns selbst, umgehen sollen: Kein Mensch ist mir zum Besitz gegeben. Alle Bemächtigung und Manipulation eines Menschen ist widergöttlich, weil selbstsüchtiger Verstoß gegen die Freiheit, die ein Geschenk Gottes ist an jedes seiner Kinder: Du gehörst mir, keinem sonst.
 
Josef und Maria weihen heute ihren Sohn JHWH-Gott. Beide tun hier schon das, was dann später Maria unter dem Kreuz noch einmal zu tun gezwungen ist: Ihr Kind herzugeben. Mit der „Darstellung Jesu im Tempel“ beginnen sie sich darin zu üben zu glauben und zu vertrauen, dass ihr Kind eine ganz eigene Geschichte mit seinem Gott haben wird, an der möglicherweise die eigenen elterlichen Vorstellungen von eben diesem Kind und seinem Lebensweg zerbrechen werden.
 
Das ist eine radikale geistliche Übung. Das eigene Kind als dasjenige zu lieben, das unter - und mehr noch - in meinem Herzen gewachsen ist - und zugleich zuzulassen und mich damit einverstanden erklären, dass Gott eine ganz eigene Geschichte mit diesem Kind eingehen will, die ich nicht kenne, bei der ich lediglich vertrauen kann, dass sie eine gute ist.
 
Der Weihnachtsfestkreis endet mit dem Fest der „Darstellung des Herrn“; morgen werden wir die Krippe und die geschmückten Bäume aus der Kirche räumen. Nun beginnt der „geistliche Alltag“, mit eben diesem radikalen Fest. Es beendet einen illusionierten Besitzanspruch von Menschen über Menschen.
 
Amen.
 
Otmar Leibold