29. Oktober 2006 - 30. Sonntag im Jahreskreis
Mk 10, 46 - 52

„Was willst du, das ich dir tun soll?“ (V.51)

 
Liebe Gemeinde!
 
Manchmal sind die Worte Jesu verblüffend. Nicht nur seiner Predigten und Antworten, sondern auch sein Fragen. Es ist doch offenkundig, was Bartimäus fehlt. Was soll denn einer Blinder mehr wollen, als sehen zu können. Wozu diese Frage?
 
Und doch ist sie alles andere als überflüssig. Warum?
 
Schauen wir noch einmal auf die Ausgangssituation. Bartimäus wird uns als ein blinder Mensch vorgestellt, jemand der nichts mehr sieht - sich nicht und natürlich auch die anderen nicht. Damit ist er von vielen Bereichen des normalen Lebens ausgeschlossen. Man kann ja einmal ganz unbedarft fragen, was denn Bartimäus alles in seinem Leben nicht (mehr) sehen konnte oder vielleicht auch gar nicht mehr sehen wollte?
 
Vielleicht war es genau das, was uns im Evangelium als Beziehung der Menschen zu ihm geschildert wird: das er kein „An - sehen“ hat. Vielleicht konnte er das nicht mehr ertragen, dass nicht mehr ansehen. Im Text haben wir gehört: „Viele der Menschen, die um ihn standen, wurden ärgerlich und befahlen ihm, zu schweigen“ (48). Das ist vermutlich nicht nur ein zufälliger Satz, der aus einer momentanen Situation heraus gesprochen worden ist. Er ist bezeichnend für die Lebenswirklichkeit des Bartimäus. Er stört die anderen. Besser wäre es, wenn er nicht da wäre. Er hat keinen eigenen Raum im Leben. Er soll sich möglichst unauffällig verhalten. Er soll ruhig und angepasst sei. Wenn er sich so verhält, wird er auch ab  und zu mit ein paar Almosen abgespeist und durchgefüttert.
 
So eine Erfahrung machen zu müssen, ist demütigend, nimmt das Selbstvertrauen und macht tatsächlich zum Bettler - äußerlich, aber noch mehr innerlich.
 
Aber in diesem Moment, in dieser Begegnung hält Bartimäus sich nicht an das gewohnte Spiel. Als er sich zu Wort meldet, selber, ungefragt, sogar unerlaubt, wird er angeherrscht: Was schreist du hier herum. Du hast nichts zu sagen. Dich wollen wir nicht hören. Dich wollen wir nicht wahrnehmen, oder zumindest nur dann, wenn es uns in den Kram passt!
 
Vielleicht ist es das eigentliche Wunder in dieser Begegnungsgeschichte, dass Bartimäus durch die hundertfachen Botschaften der Lebensverneinung hindurch noch zu seiner Sehnsucht gefunden hat. Und in diesem Moment, dieses eine Mal traut er sich, zu ihr zu stehen und sie in die Welt hinauszuschreien. Er, der immer gewohnt war, sich unterzuordnen, sich zu ducken und zu fügen, begehrt auf. „Er aber schrie noch viel lauter! (48):
 
Worin besteht sie, seine Sehnsucht? Jesus stellt genau diese Frage. Es ist wirklich keine einfache Informationsfrage, die mit einer banalen Antwort erledigt wäre. In diesem Moment, in dieser Situation geht es um mehr, um Grundsätzliches, um Existentielles.
 
Was willst du, das ich dir tun soll?
 
Liebe Gemeinde! Was würden Sie auf diese Frage antworten? Haben Sie, haben wir eigentlich eine wirkliche Erwartung an Jesus? Gibt es eine Sehnsucht, die stark genug ist, dass ich sie wirklich benennen könnte. Nicht so, dass ich heute diesen Wunsch äußere, der mir morgen schon gar nicht mehr bewusst ist und einen Moment später mir etwas ganz anderes wichtig erscheint? Was ist die Grundsehnsucht meines Lebens? Kenne ich sie?  Ist sie so, dass ich sie im religiösen, im spirituellen Bereich beantwortet haben möchte? Ist sie so, dass ich sie zu Christus, zu Gott hintragen könnte?
 
Wenn ein Bettler zu mir kommt - und das passiert öfter, als mir lieb ist - und ich ihn frage, was er von mir will, erwarte ich als Antwort: „Einen Euro“. In der Regel kommt diese Antwort - vermutlich auch, weil der Bettler denkt, dass von mir nichts anderes, nicht mehr zu erwarten ist.
 
Womit bin ich, womit sind Sie zufrieden?
 
Bartimäus hat seine Lebenssehnsucht benannt: Ich will sehen, mehr sehen, als mir jetzt möglich ist. Ich will die Wahrheit des Lebens sehen. Ich verstehe das so, das in diesem Wunsch seine Sehnsucht nach Glauben zum Ausdruck kommt, nach einem Glauben, der in ihm das Vertrauen stärkt, dass auch er ein Lebensrecht hat. Und er hat in Jesus ein Gegenüber erkannt, an das er diese Bitte, diesen Wunsch richten kann, weil er vertraut, dass bei ihm seine Sehnsucht gut aufgehoben ist.
 
Hier wird im Evangelium ein zweites Wunder erzählt. Die Menschen wehren Bartimäus zunächst ab. Sie fühlen sich von ihm gestört und schenken ihm kein An - sehen. Und genau diese Menschen fordert Jesus auf: „Ruft ihn her!“ (49). Das könnte zunächst befremden, denn man hätte ja auch erwarten können, dass er dem Blinden den Weg erspart und selber zu ihm hin geht. Aber Jesus schickt die Menschen, die ihn vorher abgewehrt haben. So schafft er Beziehung und damit Veränderung, Verwandlung. Es ereignet sich auch an den Herumstehenden etwas wichtiges. Sie werden auf Bartimäus in einer neuen Weise aufmerksam und nehmen ihn anders wahr als bisher. Die, die ihn zunächst stumm und klein machen wollten, sagen auf einmal: „Hab Mut. Steh auf. Er ruft dich!“ Welche Kraft hat so ein Wort, gerade wenn es zu jemanden gesprochen ist, der die Erfahrung von Zuwendung, von Gemeinschaft gar nicht mehr kennt und für den sie nicht selbstverständlich ist.
 
Hier wird ein wichtiger Aspekt von Gemeinde sichtbar. Jemanden in Not, in Bedrängnis zu sehen und ihm - aus dem Blickwinkel Jesu sehend als Mensch ernst zu nehmen, ihm beizustehen, Mut zum Leben zu machen, das verändert beide Seiten: den, der den Bedrängten sieht und den, dem in so einer Weise Mut gemacht wird, der so wieder neu auf seine Beine kommen kann. Zur Gemeinde Jesu Christi gehört es, dass es in ihr Menschen gibt, die einander sehen und helfen.
 
Hab Mut! Steh auf. Er ruft dich!
 
Amen
 
Harald Fischer