16. Juli, 15. Sonntag im Jahreskreis
Mk 6, 7-13
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Jedes einzelne Evangelium kann man vergleichen mit einem kostbaren Flickenteppich, der aus unterschiedlichsten Teilstücken zu einem kunstvollen Ganzen zusammengefügt worden ist. Da finden sich farbliche Unterschiede und solche in Qualität und Größe, die Art der Stoffe ist verschieden, einige Stücke sind alt und gebraucht, andere neu und bisher noch nicht verwendet.
 
Jedes unserer vier Evangelien besteht aus eben solchen Teilstücken: Wir begegnen Erzähl- und Redestücken, Wunderberichten und Gleichniserzählungen, Mahn- und Weisheitsworten, theologischen Reflexionen und Streitgesprächen, historischen Erinnerungen an Worte Jesu und nachösterlich entstandenen Gemeindereflexionen auf den Tod Jesu, auch endzeitlich inspirierten theologischen Bemerkungen an die jeweilige Gemeinde, an die sich der Evangelist richtet. Neue Textstücke finden sich ebenso wie alte ehrwürdige, aus der Ersten Bibel schon bekannte. So bildet jedes Evangelium ein kunstvolles, kostbares Gewebe aus unterschiedlichen Stoffen
 
Wie wir wissen, hat Jesus selbst nichts Schriftliches hinterlassen; auch seine Jünger hat er niemals dazu aufgefordert, seine Worte und Taten zu protokollieren.
 
Und doch: Wir treffen heute auf ein Evangelienstück, das nach übereinstimmender Meinung der Exegeten die Spiritualität und den Glauben Jesu auf eine höchst authentische Weise wiedergibt: Weil sich nämlich nicht der leiseste christologische Hinweis, keine Spur einer theologischen Verarbeitung des Kreuzestodes Jesu, nicht einmal die Spur einer Andeutung einer Ostertheologie darin findet.
 
Dagegen: Unser heutiges Evangelium stellt vor Augen, wie damals, zur Zeit Jesu, Kirche aussah und sich verstand. Es gewährt uns einen Blick in die Geburtsstunde der Jesusbewegung, die bar jeder institutionellen Organisation und Regelung war, die keine amtlichen Kompetenzen oder hierarchischen Machtstrukturen ausbildete, sondern einzig vertraute auf das persönliche Charisma des einzelnen Gläubigen. Im eigentlichen, vor allem heutigen Sinn verbietet sich es sich freilich, von Kirche zu sprechen: Jesus hat ja keine Kirche gegründet, sowenig wie es seine Absicht war, eine neue Religion zu gründen. Vielmehr ruft er eine Bewegung ins Leben, die sog. Jesusbewegung, wie die Exegeten heute sagen: Sie ist gekennzeichnet durch einen ethischen Radikalismus, der sowohl von Jesus als auch von seinen ersten Anhängern vertreten und gelebt wird. Kennzeichen dieses ethischen Radikalismus bilden vier konkrete, spirituelle Lebensformen: Die Heimatlosigkeit, die Familiendistanz, der Besitzkritik und der Rechtsverzicht bzw. die Gewaltlosigkeit, also der bewusste Verzicht auf die Ausübung von Macht, die die Entfaltung von selbstbestimmtem und freiem Leben verhindert. Wir wissen heute mit Sicherheit, dass Jesus selbst und weitgehend die erste Generation seiner Anhänger so gelebt hat. Das alles bestimmende Motiv dieser charismatischen Lebens- und Glaubensform bildet die unerschütterliche Überzeugung von der bald hereinbrechenden Gottesherrschaft als Ausdruck radikaler Theokratie: Gott soll endlich allein herrschen. Dieser radikaltheokratische Geist stellt einen Gegenentwurf dar zum damals geltenden politisch-gesellschaftlichen wie religiösen Selbstverständnis des jüdischen Gottesstaates: Wenn JHWH-Gott die eigentliche, die einzig wahre Wirklichkeit dieser Welt und damit meines Lebens ist und sein will, dann folgt daraus eine radikale Hinterfragung aller Bindungen, die ich jemals in meinem Leben eingegangen bin. In Sachen Reichtum und Besitz hört sich Jesus so an: „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Die Polemik z.B. gegen die Reichen ist von kaum erträglicher Schärfe. Wenn es leichter ist, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt, so hat kein Reicher eine Chance. Oder vernehmen wir Jesu Haltung zur Familiendistanz: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwester gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein.“ „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? ... Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester nd Mutter.“
 
Auch seine Einstellung zu Macht und Gewalt ist eindeutig: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich... Selig, die keine Gewalt anwenden..., selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit... selig, die Frieden stiften: sie werden Söhne Gottes genannt werden... Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen...; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“
 
Dies ist der Originalton der Botschaft Jesu, unverfälschter Ausdruck ihres ethischen Radikalismus, der sich aus dem tiefen Vertrauen speist, dass die alles umfassende Gegenwart Gottes im Hier und Jetzt mich zu einem Glauben und zu einem Leben führen will und kann, das seine letzte Sicherheit und Geborgenheit einzig in der Wirklichkeit eben der Gegenwart Gottes finden kann.
 
Eben auf diese Weise sendet Jesus heute seine Jünger aus, also uns: „Er befahl ihnen“, heißt es wörtlich, „außer einem Wanderstab nichts auf den Weg mitzunehmen, kein Brot, keinen Bettelsack“, wie Mk wörtlich schreibt, „kein Geld im Gürtel, keinen Mantel für das Nachtlager, an den Füßen nur Sandalen.“ Jesus befiehlt, so schlicht und einfach auf die Menschen zuzugehen wie irgend möglich: „Seid so einfach wie ihr könnt. Macht euch nicht größer oder schöner oder klüger, als ihr seid. Sucht nicht zu imponieren. Seid selber aufrichtig und voll Vertrauen. Lebt im Augenblick. Lebt im Vertrauen auf die Güte und Herzensweite der Menschen, zu denen ihr kommt; lebt damit ein Gleichnis des Glaubens an das Gute in jedem Menschen. Erkennt in jedem Menschen, dem ihr begegnet, das Antlitz Gottes, sein Ebenbild, sei das Gesicht dieses Menschen auch noch so entstellt von Schmerz, Enttäuschung, Verzweiflung oder Hass. Macht euch abhängig allein von der Gastfreundschaft der Menschen, die euch die Türen öffnet zu den Häusern und damit zu den Herzen der Menschen. Wenn man euch nicht hören will, übt keinen Druck aus, wendet keine Tricks an, weckt kein schlechtes Gewissen im andern: Vielleicht kommt die Zeit des Hörens später; vielleicht kommt das Hören auch nicht durch euch, vielleicht kommt es nie, wer weiß, außer Gott?“ Die Boten im Evangelium bringen nichts weiter mit als sich selbst. Das, was wirkt, ist allein ihre Echtheit, ihre Glaubwürdigkeit. Das ist wohl das Wichtigste: Wir müssen echt sein. Wir müssen glaubwürdig sein. Nicht das schwere Geschütz der Argumente bringt es; auch nicht die sanfte Tour der Diplomatie; und schon gar nicht das Beweisenwollen. Nur die Echtheit löst im andern etwas aus.
 
Die Versuchung ist groß, noch aus dieser Armut eine Herrschaftsgeste zu machen. Deshalb gehört zur Aussendungsrede Jesu dessen Mahnwort implizit dazu:
 
„Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll allen ein Sklave sein.“
 
Der Glaube Jesu und damit seine Botschaft, die zu verkünden er heute seine Jünger, also uns selbst, aussendet, ist getragen von der Gewissheit des absoluten göttlichen Wohlwollens, das uns Menschen schlechthin umfängt und dem sich jeder von uns fraglos überlassen darf. Das ist es ja, worum es Jesus immer wieder geht: Das Vertrauen zu üben, dass Gott uns in allem unserem Tun und Glauben, in unseren guten und bösen Tagen mit seinem Vertrauen zuvor kommt. Und dass dieses Vertrauen mich dazu führt, mich zu überlassen, Gott und den Menschen. Dieser Glaube, dieses Vertrauen geht an die Wurzel meiner Existenz, ist radikal. Heute sendet uns Jesus, ein Gleichnis der Einfachheit dieses Vertrauens zu den Menschen zu bringen; ob in unseren Familien, am Arbeitsplatz oder hier in unserer Gemeinde. Zuvor aber lädt uns Jesus noch an seinen Tisch, uns zu stärken an seinem Vertrauen und seinem Glauben.
 
Amen.
 
Otmar Leibold