16. April 2006, Ostersonntag
Mk 16, 1-8
 
 
Tot ist tot. Daran gibt es nichts zu deuteln. Ein Faktum, wie’s eindeutiger nicht sein kann. Menschen sterben die unterschiedlichsten Tode. Das war in Palästina vor zweitausend Jahren genauso. Mir geht es darum, dass wir hier und heute - auch an Ostern - realistisch bleiben. Leiden, Sterben und Auferstehen sind keine Angelegenheit von drei Tagen, die in der Kirche zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag liturgisch abgefeiert werden kann.
 
Es geht um zu viele Leiden, um sie an Ostern triumphierend zu verharmlosen. Die Todesbedrohungen von Menschen - Krankheiten, Unfälle, Katastrophen, Hungertod und Völkermord - sie sind durch die Botschaft von Ostern im Preis nicht reduziert. Sie geschehen mit aller Wucht. Und sie lassen zurück die ganze Ohnmacht vor dem Tod.
 
Den Frauen im Markus-Evangelium geht es nicht anders. Markus zeichnet ein realistisches Bild vom Tod Jesu. Mit Jesus ist jemand gestorben, der eine große Hoffnung war. Kein Privatmann aus Nazareth. Viele hatten gehofft, dass er der Messias sei, der dem römischen Imperium und der Macht des Bösen ein Ende setzt. Und dass eine neue, große Zeit anbricht. Und jetzt das: Ein Ende als Verbrecher und Volksverhetzer. Der Evangelist Markus macht die Kapitulation Jesu als einziger der vier Evangelisten ganz deutlich: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ - Die Selbstaufgabe eines Helden in auswegloser Situation. Mehr war offensichtlich nicht drin. Auch für Gott im Himmel nicht.
 
Wo Himmel und Erde sich als dermaßen macht- und kraftlos erweisen, muss es verwundern, dass sich drei Ehemalige auf den Weg machen und sich das ganze Elend noch einmal anschauen wollen. Drei Unverbesserliche, die sich - wenn schon die Hoffnung - so doch zumindest nicht den Freund nehmen lassen wollen. Sie leisten nach alter Väter Sitte einen Totendienst und wollen Jesus mit wohl riechenden Ölen einbalsamieren. Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome kommen wegen Jesus, allein seinetwegen, „bei Sonnenaufgang“, wie es heißt, also so früh und so schnell wie möglich. „Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“
 
Was von der Katastrophe übrig bleibt und sich offensichtlich nicht kleinkriegen lässt, ist die Beziehung zu Jesus, der doch so unbedingt und überzeugt von Gott gesprochen hatte. Der vom Vater im Himmel und vom Reich Gottes erzählt hatte in so vielen Gleichnissen. Und Zeichen gesetzt und Wunder gewirkt hatte, die ihn als den Messias glaubwürdig machten. Diese Verbindung mit Jesus ist offensichtlich nicht tot. Sie treibt die Begleiterinnen Jesu zum Ort seiner letzten Ruhe. Noch am Leichnam Jesu scheint ein Hauch ihrer Lebenshoffnung ablesbar und in Würde zu betrauern zu sein. Mit dem Leichnam Jesu soll ihre Hoffnung selbst gleichsam einbalsamiert und konserviert werden. Der Tod am Kreuz kann und darf nicht das letzte Wort in dieser Sache sein.
 
Die Treue zum Getöteten, die Treue zur eigenen, niedergemachten Hoffnung ist stärker als die Resignation. Was innerlich schon lebte als eine Verheißung Gottes, kann nicht ohne Folgen bleiben. Äußerlich ja, innerlich nie! Und weil die Sehnsucht und die Heilung, die der Messias in ihnen gestiftet hat, mächtiger sind als die Folterwerkzeuge, die den Menschen töten, wird der Stein vor dem Grab weggerollt. Was hier im Evangelium beschrieben wird, ist die Geschichte einer neuen, inneren Wahrnehmung. Sie geschieht an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Auch wer trauert um verpasste Chancen, um gescheiterte Beziehungen, getötete Kinder, bewegt sich seelisch zwischen Leben und Tod - mitten im Leben. Wem der ‚Gott der Kindheit’ stirbt, braucht jemanden, der den Stein von seinem Grabe wegwälzt, damit er zu neuem Leben kommen kann. Die Sorge der Frauen auf dem Weg zum Grab steht stellvertretend für die bange Hoffnung, wer denn den Stein vor unserem eigenem Grabe wegrollen wird, in das wir uns früher oder später hineinbewegen.
 
Aus dem Osterevangelium erfahren wir: Als die Frauen ankommen am Grab, versperrt kein Hindernis mehr den Eingang. Ungehindert erhalten sie Zugang und sehen: Das Grab ist leer. Der Leichnam, den sie salben wollen, ist nicht mehr da. Einzig „die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte“, deutet hin auf das Vergangene. Aber das Neue, das sie zu sehen bekommen, ist nicht minder erschütternd als das Gewesene. Sie treffen einen Engel, der mit dem, was er sagt, für „Schrecken und Entsetzen“ sorgt. Die Frauen ergreifen die Flucht und erzählen niemandem davon. Dann bricht das Evangelium ab.
 
Das Interessante ist, dass der Evangelist Markus die späteren Erscheinungen des Auferstandenen gar nicht überliefert. Die anschließenden Verse 9 bis 20, wie wir sie heute im Text finden, sind nachredaktionell. Sie bilden einen Anhang, der erst im 2. Jahrhundert von einem unbekannten Autor hinzugefügt wurde. Markus will offensichtlich den jähen, erschütternden Schluss seines Evangeliums beibehalten. Das ist gut so. Denn wie man vom Tod wieder zum Leben kommt, ist ein Geheimnis, für das die Worte fehlen. Und wofür die Worte und die Einsicht fehlen, das muss am eigenen Leib erfahren und durchlitten werden. Jesus war tot, und Gott hat ihn auferweckt von den Toten. Diese Macht, die neues Leben schafft, sprengt alle Muster menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung. Sie bringt Faszination und Erschrecken zugleich hervor. Was die Frauen beim Blick ins Innere gesehen und erkannt haben, lässt sich auf dem Marktplatz nicht einfach so hinausposaunen. Nicht einmal den Vertrauten, den Jüngern Jesu, vertrauen sie das Gesehene an.
 
Es gehört zur Eigentümlichkeit christlicher Rede von Tod und Auferstehung, dass sie offenbar genau auf der Grenze zwischen Reden und Schweigen angesiedelt ist. Aber eben dies ist ein Problem. Wen kümmern heute schon Erfahrungen, die der Stille bedürfen? Oder eine Kunst des Schweigens zur rechten Zeit? - Wer sich orientieren will, muss heute mehr denn je seine Sinne schärfen für ein zweites Hinhören und ein zweites Hinsehen. Damit mit dem Hörbaren auch das Unerhörte und mit dem Sichtbaren auch das Unbesehene und Übersehene zum Vorschein kommen kann.
 
Wir aber machen für gewöhnlich zu viele Worte. Inmitten von Bilderflut und Wortgeklapper und super guter Laune lässt sich das Wunder von Ostern schwer vermitteln. Das geht anders: Wir können - wie die Frauen im Evangelium - das göttliche Geheimnis von einem neuen Leben nach dem Tod nur hüten in unserem Innern: als stille Hoffnung, dass wir neu anfangen können, wenn wir am Ende sind. Und als ermutigende Botschaft, dass Gott niemanden auf der Strecke lässt, der sich aufmacht, ihn zu suchen.
 
Frohe Ostern!
 
Ludger Verst, Diakon