14. 04. 2006 Karfreitag 
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Nur wenige Menschen können diese Erzählung der Passion Jesu hören, ohne innerlich davon berührt zu werden. Wir sehen auf Jesus, das Bild des gerechten und liebenden Menschen und in der Erzählung von seinem Leid erinnern wir uns an die vielen Leiderfahrungen in unserer Welt heute. Die Erfahrung des Leids gehört zu unserem Leben. Wir leben in einer verwundeten Welt. Wohin wir schauen - wenn wir die Augen aufmachen - sehen wir, wie die Menschen leiden. Manchmal scheint die Erfahrung des Leids die eigentliche Wirklichkeit unseres Lebens zu sein.
 
Wir sehen die großen Wunden des Hungers und der Ungerechtigkeit in Asien, Lateinamerika und Afrika. Wir sehen die Not der Arbeitslosigkeit, der Beziehungskrisen, der Sinnlosigkeit . Wir sehen die Wunden der unerfüllten Sehnsüchte und Wünsche so vieler Menschen in unserem Land.
 
Wenn eine Mutter Angst um ihr Kind hat, das lebensbedrohend erkrankt ist,
wenn Ehepartner in eine Krise geraten, die die Ehe bedroht,
wenn ein Autounfall von einem Moment auf den nächsten das Leben lieber Menschen auslöscht,
wenn Menschen keinen Arbeitsplatz finden und ihre soziale Situation unerträglich wird,
wenn Menschen sich gegenseitig Gewalt androhen oder diese ausüben,
das sind das Kreuzerfahrungen heute, Kreuzwege, die dem Kreuz Jesu ähneln.

Das Kreuz Jesu steht zwischen den zahllosen Kreuzen, die die Wege unseres Alltags säumen.
 
Viele Menschen möchten dieser Wirklichkeit ausweichen. Lieber wunschlos glücklich sein und das Leiden verdrängen. Man meint, ein Anrecht auf ein schmerz- und leidfreies Leben zu haben. Ein besonders groteskes Beispiel dafür ist eine Kasseler Diskothek, die für den heutigen Tag eine Miss-Wahl angesetzt hat. Die Wahl der „Miss - Kassel“ am Karfreitag. Ein schärferer Gegensatz scheint nicht denkbar: dem geschundenen und gequälten Menschen die Jugend und die Schönheit entgegen zu setzen, um so eine Wirklichkeit auszuweichen, die man nicht aushalten zu können glaubt. Der Wunsch ist verständlich. Verständlich auch, dass man daran arbeitet, dass Leiden zu minimieren. Aber es ist nicht die Wirklichkeit unseres Lebens.
 
Im Schöpfungslied der Bibel, das wir jedes Jahr in der Osternachtfeier hören, heißt es am 6. Tag: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott sah alles an, was er gemacht hatte - und siehe, es war sehr gut!“
 
Der 6. Schöpfungstag ist in der jüdisch-christlichen Zählung der Wochentage der Freitag. Heute ist Freitag - und wieder hören wir - diesmal in der Passion Jesu von Pontius Pilatus: „Siehe, der Mensch!“. Aber: dieser zerschundene, geschlagene, gequälte Mensch - hat dieser Mensch noch etwas vom Abbild Gottes?
 
Der Prophet Jesaja beschreibt, wie weit es mit dem Menschen kommen kann. Im 4. Gottesknechtslied haben wir es eben schon gehört: „Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch. Seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen an ihm fanden. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht! (Jes 53,1-3).
 
Das Haupt voll Blut und Wunden - kann es das Abbild Gottes sein? Wie hat Gott den Menschen gemeint? Und wie kann der sterbende Jesus sagen: „Es ist vollbracht“, so, als ob das Abbild Gottes erst jetzt vollkommen wäre? Das Abbild Gottes: das Haupt voll Blut und Wunden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut?
 
„Wer mich sieht, sieht den Vater“ hat Jesus gesagt. Wer Jesus sieht - am Kreuz, sieht der auch jetzt noch den Vater?
 
Der Gott, der am Freitag den Menschen schuf als sein Abbild - er will am Karfreitag gesehen und erkannt werden, im leidenden und sterbenden Jesus am Kreuz, in jedem zerschlagenen und geschundenen Menschen. Der Gott, der am sechsten Tag, am Freitag sah, dass alles sehr gut war, er will am Karfreitag gehört werden in der Stimme und im Wort Jesu: „Es ist vollbracht!“.
 
Der Mensch, den Gott gemeint hat, ist nicht der strahlende, schöne, triumphierende Göttersohn der Antike - und auch nicht der ewig junge, dynamische, kraftvolle, sozusagen hochglanzpolierte Mensch, den uns die Werbung präsentiert. Der Mensch, den Gott gemeint hat, das Abbild Gottes, den finden wir im alten, geschundenen Menschen im Krankenhaus; den finden wir im hoffnungslosen, lebensmüden Menschen in unserer Nachbarschaft, in dem, der keine Chance hat in unseren Augen und in denen unserer Umwelt. Jesus zeigt uns den Menschen, den Gott gemeint hat - auch noch am Karfreitag. Jesus - geschunden, gequält, ans Kreuz genagelt, voller Blut und Wunden: Seht, das ist der Mensch!
 
Liebe Gemeinde! Darum begehen, üben wir den Karfreitag:
 
- weil wir ein Leben lang darum ringen müssen, verstehen müssen, dass im Gesicht des leidenden Jesus das Gesicht Gottes aufscheint
 
-  weil wir ein Leben lang darum ringen müssen, verstehen müssen, dass der Mensch auch dann noch seine unzerstörbare Würde hat als Abbild Gottes, wenn er geschunden und gequält wird,;
 
- weil wir lernen wollen, dass Leiden, Schmerz, Angst, Not und Tod in uns die Sehnsucht wecken nach einer größeren Liebe, die stärker ist als der Tod;
 
- und weil wir lernen dürfen, dass Gott es sich nicht nehmen lässt, auch in die Abgründe der Schuld und des Todes zu gehen, 
 
- dass er sich selbst dort suchen und finden lässt
 
Das Haupt voll Blut und Wunden ist an diesem Karfreitag das Abbild Gottes. Dieses Bild suchen wir im eigenen Leiden und im Leiden aller Menschen.
 
Amen.
 
Harald Fischer