13. April 2006, Gründonnerstag
 

Liebe Gemeinde!
 
Der Evangelientext des heutigen Abends führt uns bei näherem Hinsehen in zwei Paradoxien:
 
Da ist einerseits die Tatsache, dass Johannes nichts von der Einsetzung eines eucharistischen Abendmahls weiß am Abend vor Jesu Tod, stattdessen aber von einer Fußwaschung der Jünger durch Jesus erzählt. Zudem ist die Schilderung des letzten Mahles sehr kurz, kommt fast wie beiläufig daher, dagegen hat Johannes die erzählerische Ausgestaltung der Fußwaschung auffallend breit angelegt.
 
Und andererseits ist da die Tatsache, dass die katholische Kirche am Gründonnerstag die Einsetzung der Eucharistie durch Jesus erinnert und bekennt, die entsprechenden Texte z.B. des Markus- oder Matthäusevangeliums aber gar nicht anbietet.
 
Für Johannes scheint es einen inneren Zusammenhang zu geben zwischen der Eucharistiefeier, de­ren Bedeutung für die Gemeinde seiner Zeit er voraussetzt, und der Fußwaschung Jesu. Beides ge­hört für ihn zusammen, wobei er die Fußwaschung in aller Deutlichkeit heraushebt.
 
Eucharistie: Gott wird uns zur Nahrung. Das hört sich missverständlich an! Die Tiefenpsychologie lehrt uns, dass das Essen für das Neugeborene - und nicht nur für dieses! - die Urform der Liebeszuwendung darstellt. Mehr noch: Das Gefüttert-Werden erleben wir in dieser frühen Zeit unseres Lebens als eine verlässliche Erfahrung der Zuwendung, der Nähe und Geborgenheit, der extremen Sicherheit. Es gibt ein biblisches Bild, das diese urmenschliche Befindlichkeit aufgreift und spirituell ausdeutet; wir erinnern uns: Nachdem Mose mit seiner Schar durch Gott JHWH im Exodus in eine neue Freiheit geboren war, reiften diese Menschen zum Volk, zu einer Gemeinschaft von erwachsend Glaubenden, und zwar anhand von zweierlei Gaben Gottes: Durch sein Wort, also die Thora vom Sinai, und durch das Manna, das Brot vom Himmel. Das Wort und das Brot - daran und damit konnten die Moseleute wachsen, konnten ihr Vertrauen entwicklen in diesen Gott, der sich ihnen in Ägypten und am Roten Meer als Rettergott gezeigt hatte. Das Brot und das Wort: Nicht nur Nahrungsmittel, sondern vielmehr „Lebensmittel“ im eigentlichen Sinn, „Glaubensmittel“, um Zutrauen in diesen Gott wachsen zu lassen, Zutrauen in seine Gabe und damit zu ihm.
 
Der biblischen Legende nach dauerte dieses Wachsen im Vertrauen 40 Jahre, so lange, bis eine neue Generation herangewachsen war, wie das Buch Exodus erzählt. Es gibt hier aber ein kleines Erzähldetail, das häufig übergangen wird; an einer Stelle nämlich begründet das Buch Exodus, weshalb das Wachsen im Vertrauen 40 Jahre in Anspruch nahm, weshalb also nach biblischer Vorstellung eine ganze Generation nachwachsen, d.h. aber auch eine alte ausgestorben sein musste: Das Volk kam erst im Gelobten Land an, nachdem auch der letzte waffenfähige Mann gestorben war. Die Gemeinschaft Gottes mit uns Menschen will uns also nicht allein zu einem unbedingten Vertrauen führen, sondern zugleich auch zu Abrüstung und Entmilitarisierung unseres Umgehens miteinander. Wer vertraut, legt seine Waffen ab, verzichtet auf Schutzmechanismen, die im Verständnis des anderen als Gegner und Feind begründet sind; wer das Manna JHWH's ißt und sein Wort vom Berg hört, sieht weder in Gott einen Widersacher noch in denen, mit denen er dieses Brot ißt. Dieser Lern- und Vertrauensprozess dauert 40 Jahre, also mitunter ein ganzes Leben; das Gelobte Land der Sesshaftwerdung am Ende der Lebenswanderung der Moseleute ist dann ein Bild für das Ankommen in dieser neuen Haltung des unbedingten Vertrauens.
 
Eucharistie: Das ist auch das Brot vom Himmel, das wir unterwegs brauchen, weil wir immer noch erwachsen werden im Glauben und Vertrauen; wie wir Vetrauen lernen im Gefüttert-Werden zu Be­ginn unseres Lebens, so könnte die Eucharistie ermutigen, dem Geber des Brotes zu vertrauen, dass er mit mir unterwegs ist, dass ich mich sicher und geborgen fühlen darf. Dass ich im Geber dieses Brotes einen Freund erkennen darf, der bedingungslos zu mir steht, ja mehr noch, der bereit ist, sein Leben für mich zu geben, damit ich leben kann! Als würde Jesus sagen: „Dieses Brot das bin ich. Das ist mein Leben für euch. Mein Glaube, meine Liebe, all meine Hoffnung - all das gebe ich euch heute; nehmt es; ich halte nichts von mir zurück; ich gebe mich ganz und völlig hin - und ihr werdet es sehen und spüren: Ihr werdet davon leben können, vertrauen lernen können, das Leben nicht mehr als Wüste erleben, sondern als Garten, als fruchtbares Land, in dem ihr gedeihen könnt.“ Auch hier eine kleine Bemerkung am Rand: Johannes erzählt, dass Jesus in diesem Augenblick schon weiß, dass er von seinen Jüngern verraten werden wird.  Gott reicht seinen Feinden die Eucharistie - auch das ist ein Aspekt des heutigen Abends. Er liefert sich ihnen aus, ihrer Feigheit und ihrem Kleinmut, ihrer Lebensangst und ihrer Sucht, lieber die eigene Haut zu retten als das Leben eines Freundes.
 
Die Eucharistie ist ein Geheimnis. Das ist so, weil Gott selbst ein Geheimnis ist, der sich in der Eu­charistie gibt, restlos sich uns ausliefert. Nur in sehr menschlichen Bildern können wir von diesem Geheimnis sprechen. Und doch: Der unfassbare Gott will uns ernähren, dass wir Vertrauen fassen in ihn allein.
 
Diese Bedeutung der Eucharistie setzt Johannes in seiner Gemeinde voraus. Hierzu muss er nicht mehr viel sagen. Entsprechend mehr aber zu dem anderen Zeichen Jesu an diesem Abend, der Fußwaschung. Dass die Fußwaschung im alten Orient als ausgesprochener Sklavendienst galt, ist der Gemeinde des Johannes und uns bekannt. Hierher rührt der Widerstand des Petrus, sich von seinem Meister die Füße waschen zu lassen. Verkehrte Welt also, in der Tat.
 
Gott kniet vor dem Menschen nieder. An Weihnachten knieten wir da drüben, vor dem großen Gott, der für uns in der Krippe ganz klein geworden war. Jetzt kniet Gott vor uns. Können und wollen wir das annehmen? Sind wir mit einem solchen Gott einverstanden? Hatten wir uns so seine Macht vorgestellt, seine Art zu herrschen? Es scheint, als ob die Fußwaschung das Motiv der Abrüstung, der Entmilitarisierung der Gesinnung betont, die gewohnten zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf stellt: Der Herr macht sich zum Diener, was kein Spiel ist, kein Trick, sondern Ausdruck des wirklichen Seins Jesu! Wer also das Brot ißt, sich von Jesus die Füße waschen lässt, begegnet in Jesus einem Gott, der wehrlos ist und mir und uns grundsätzlich und vorbehaltlos vertraut; einem Gott ohne Berührungsängste, ohne hierarchische Attitüden; einem Gott, der Allmacht aufgibt, damit wir existieren können; einem Gott, der zart und zerbrechlich ist, sich völlig und rückhaltlos ausliefert dem Willen und Geschick des Menschen und dabei stark im Dienen und in der Hingabe ist, ein Gleichnis der Freundschaft, der Liebe, der Gemeinschaft.
 
So sind die Eucharistie und die Fußwaschung ein und dasselbe Sakrament. Es führt uns direkt zu dem Geheimnis des Wesens Gottes, für das wir keine Worte haben, sondern nur einfache, schlichte Gesten, die unvollkommen zeigen wollen, wie unser Gott ist; wie heilsam er für uns sein will. Es ist das Sakrament der Wehrlosigkeit Gottes, das uns entwaffnen will, weil Gott selbst sich aller Macht und Gewalt begeben hat. Deswegen macht es ja auch Sinn, dass wir uns vor dem Empfang dieses Brotes den Frieden und die Versöhnung zusprechen: Wir wollen uns gewaltlos begegnen, auf jede Form von Macht verzichten, weil Gott selbst in seiner ganzen Ohnmacht zu uns sich niederkniet. Wer dieses Brot ißt, erkennt im andern unweigerlich seinen Bruder und seine Schwester! Insofern könnte man das Abendmahl und die Fußwaschung ein geradezu politisches Sakrament nennen, neben aller Intimität, die es zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen stiftet. Wer sich in der Eucharistie und in der Fußwaschung die Versöhnung mit Gott und die Versöhnung mit den mitfeiernden Menschen hat schenken lassen, der wird außerhalb des Kirchenraums nicht so weiterleben können wie bisher. Man könnte sagen: Ich muss den kräftigen Geist, den ich heute abend empfangen habe, in soziale und politische Praxis umsetzen wollen, in bewahrende und verändernde Aktivität.
 
Der Schweizer Pastor und Dichter Kurt Marti hat einen Psalm gedichtet; er geht so:
 
gott
mein versteck
 
wo ich sicher bin
vor feinden
 
sicher auch
vor mir selber
 
Mit dem heutigen Abend, mit dem Manna in der Wüste und dem Wort vom Berg, mit dem Brot, das Jesus mit uns teilt, das er selber ist, und mit der Fußwaschung haben wir Menschen ein Versteck gefunden, einen rettenden und sicheren Ort, an dem sich ohne Angst leben läßt: Ohne Angst vor Gott, vor dem Leben, den Menschen, ohne Angst auch vor mir. Und so wird Jesus nachher zum Ölberg gehen und morgen seinen Weg nach Golgatha. Und so können auch wir, wenn unsere befristete Zeit hier endet, unseren letzten Weg gehen.
 
Amen.
 
Otmar Leibold