2. April 2006, 5. Fastensonntag
Hebr 5,7-9 / Joh 12, 20 - 33
 
 
Liebe Gemeinde!
 
Dass Menschen lernen müssen ist für uns ganz selbstverständlich. Unser ganzes Leben ist davon geprägt: Nicht nur das Lernen in der Schule mit bestimmten äußeren Fakten, die wir aufnehmen müssen, sondern mehr noch, das innere lernen kennen wir als fortlaufenden Prozess in unserem Leben. Wir müssen unsere Erfahrungen wahrnehmen und in unser Inneres integrieren, damit wir uns zu dieser Welt in irgendeiner Weise verhalten können.
 
Heute wird uns im Evangelium und auch in der Lesung etwas eher Befremdliches über das Leben Jesu mitgeteilt: Auch er war ein Lernender!
 
Dass er gelehrt hat begegnet uns in seinen Reden und in den Begegnungen mit den Menschen nahezu auf jeder Seite des Evangeliums. Das ist uns eher selbstverständlich. Aber Jesus ein Lernender?
 
Ja, auch er hat einen inneren Weg erlebt, den er verarbeiten und in seine Sicht dieser Welt integrieren und auch verkraften musste. Er war „in allem uns gleich“, ganz und gar Mensch. Und es wird uns gesagt, dass ihm sein Lernen z.T. sehr schwer gefallen ist. In der Lesung haben wir es eben aus dem Hebräerbrief gehört: „Er hat mit lautem Schreien und unter Tränen seine Not vor den gebracht, der allein ihn retten konnte“. Und: „Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt (Hebr 5,7).
 
Wenn wir uns einen Menschen, der uns vertraut ist, in dieser Situation vorstellen, ahnen wir, welche Not da vorliegen muss. In der Heiligen Schrift wird uns erzählt, dass auch Jesus seelische Schmerzen erlitten hat, Schmerzen, die derart waren, dass er in lautes Schreien und in Tränen ausbrach.
 
Ähnliches hören wir im Evangelium: „Jetzt ist meine Seele erschüttert“, so sagt dort Jesus (Joh 12,27). Dieses „erschüttert sein“ ist mehr, als eine gewisse Traurigkeit oder Betroffenheit. Es ist eine ganz tiefe Erschütterung der ganzen Lebensgrundlage. Wir begegnen hier der Getsemane-Stunde, der Stunde der Todesangst Jesu, wie sie im Johannesevangelium erzählt wird.
 
Was musste Jesus derart schmerzhaft lernen, das es mit solch starken Worten weitergegeben wird?
 
Sein Leben, seine Botschaft waren geprägt von der Glaubensgewissheit: Gott ist da!
 
Diese Gewissheit hat er weitergegeben. Von ihr hat er gepredigt. Von ihr sind Menschen getröstet worden, an ihr haben sich Menschen aufgerichtet und sind an ihr gesundet: an Leib und Seele.
 
Jetzt, in der stärker werdenden Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leiden und dem bevorstehenden Tod, den er immer deutlicher vor Augen hat, muss sich diese Glaubensgewissheit bei ihm selber bewähren.
 
Jesus erlebt: Diese Nähe Gottes, die er verkündet hat und aus der er lebt, heißt nicht, dass im Leben alles nur gut wird.
 
Gott ist da! Diese Botschaft, aus der er gelebt hat, bedeutet nicht: Gott bewahrt vor den bitteren Erfahrungen in diesem Leben.
 
Gott ist da! Das heißt: Er bewahrt in den bitteren Erfahrungen dieses Lebens.
 
Diese Erfahrung muss Jesus selber machen und lernen. Von ihr wird uns heute in den Texten erzählt.
 
Das Evangelium beginnt mit der Bitte der Griechen an die Jünger: „Wir wollen Jesus sehen!“
 
Johannes, der Evangelist, will damit sagen: Auch heute, 100 Jahre nach der Geburt Jesu, zu einem Zeitpunkt, als der Herr schon längst nicht mehr auf der Erde lebt, gibt es noch immer Menschen, die mit dieser Bitte leben. Sie möchten Jesus kennen lernen, ihm begegnen. Indem im Evangelium die Bitte von den Griechen, also von Menschen, die nicht zur jüdischen Tradition gehören, an die Jünger heran getragen wird, wird sichtbar: Wer heute Jesus begegnen will, muss sich an die halten, die zu ihm gehören und die an ihn glauben. Er muss sich an die Gemeinde Jesu, an seine Kirche halten. Dort begegnen wir ihm.
 
Jesus antwortet mit einem Bildwort auf diese Bitte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt bringt es reiche Frucht.“
 
Johannes, der Evangelist, will damit sagen: „Wer Jesus wirklich begegnen will, muss sich darauf einlassen, das er ihm als den Verwandelten begegnet. Er ist gegenwärtig als der Auferstandene, der sich in der Eucharistie und in seiner Gemeinde zeigt.
 
Wer dem Herrn heute begegnen will, wer Jesus heute sehen will, muss sich auch selber auf einen Verwandlungsprozess einlassen. In der verwandelnden Kraft seiner Gegenwart begegnet uns selbst durch Schmerz und Tod hindurch das Leben Gottes. Auch heute.
 
Amen.
 
Harald Fischer