26. März 2006, 4. Fastensonntag
2 Chr 36, 14-16. 19-23; Joh 3, 14-21
Wer weiß schon immer genau, was richtig ist im Leben. Wir tun unser Bestes. So lange es gut geht. - Und in der Krise? - Da gelingen die Selbstverständlichkeiten nicht mehr. Was gestern noch Erfolg versprechend war, ist heute genau das Falsche. Diese Erfahrung machen nicht nur Menschen heute in der so genannten mobilen Gesellschaft, in der keiner mehr für alle verbindliche Maßstäbe ausgeben kann. Das Volk Israel war - wenn man sich seine lange Glücks- und Schicksalsgeschichte anschaut - mit der gleichen menschlichen Herausforderung konfrontiert, wie die erste Lesung deutlich macht. Es ist die Geschichte von Landnahmen und Teilungen, von Korruption, Gewalt, von Aufstieg und Niedergang.
Alle, vom Volk bis in die höchsten Führungsspitzen, kümmert herzlich wenig, welchen Sinn und welche Folgen ihr Handeln hat.
„In jenen Tagen begingen alle führenden Männer Judas und die Priester und das Volk viel Untreue. Sie ahmten die Gräueltaten der Völker nach und entweihten das Haus, das der Herr in Jerusalem zu seinem Heiligtum gemacht hatte. Sie verhöhnten die Boten Gottes, verachteten sein Wort und verspotteten seine Propheten, bis der Zorn des Herrn gegen sein Volk so groß wurde, dass es keine Heilung mehr gab.“ (2 Chr 36, 14-16)
Auch die Propheten mit ihren Warnungen dringen also nicht mehr durch. Warum sich Kritik anhören? Warum sein Leben ändern? Das hat Folgen: Die Brücke zum Gott der Väter, zum Gott des Heils bricht ab, und der Weg führt in die Verbannung nach Babel. Not und Elend zwingen das auserwählte Volk zu neuen Einsichten. Das ist ein unglaublicher Dämpfer. Und die alte Menschheitsfrage bricht auf: Warum sind immer erst Leid, Not und Elend nötig, bevor man zur Besinnung kommt?
Wenn keiner mehr damit rechnet, dass Gott noch im Spiel ist, passiert das Überraschende: Kyrus, ein persischer König, ein Heide, wird zum Boten Gottes. Durch ihn redet Gott auf überraschende Weise zum Volk. Der König von Persien fordert zum Wiederaufbau des Tempels auf.
„Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche der Erde verliehen. Er selbst hat mir aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört - der Herr, sein Gott, sei mit ihm -, der soll hinaufziehen.“ (2 Chr 36, 22f.)
Der Geist Gottes ist offensichtlich kein Privileg von Auserwählten. Ein Nicht-Jude sorgt für den neuen Aufbruch. Weil Gott es so will. Das ist heute nicht anders. Gottes Geist ist kein Privileg kirchlicher Zentralstellen und ihrer Amtsträger. Bewegung und Motivation zur Umkehr geschehen meist dort, wo wir es nicht vermuten. Der Geist Gottes weht, wo er will - auf ganz überraschende, je unterschiedliche Art und Weise.
Dies zeigt uns erst recht das Evangelium von heute, das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus. Da ist es nur umgekehrt. Nikodemus ist kein Heide, sondern ein angesehener Jude, Mitglied des Hohen Rates in Jerusalem. Und der schleicht des Nachts zu Jesus, lesen wir einige Verse vor dem heutigen Evangelium. Das sieht nicht sehr gut. Es geht aber hier nicht um fromme Optik, sondern um grundsätzliche Einsichten.
Gespräche in der Nacht sind mitunter besonders vertraulich, oft dringt man dabei viel tiefer vor, als es bei Helllichtem, im „offiziellen Alltag“ möglich ist. Die Nacht ist die Zeit der Geborgenheit und Ruhe, manchmal aber auch der Angst und Unsicherheit, die Zeit andrängender Fragen und Sehnsüchte. Nikodemus spürt etwas davon. Er vertraut auf den guten Geist Jesu; dafür überschreitet er Grenzen.
In den „Nikodemusstunden“ unseres Lebens dürfen auch wir Gott an unserer Seite wissen. Gott will nicht richten und vernichten - das zeigt ja auch die erste Lesung! - Gott will retten. Er will uns heil machen und wachsen sehen. Im Vertrauen auf Gott gelangen wir - wie Nikodemus - aus dem Dunkel unserer Fragen und Zweifel ans Licht. Und es wird wieder hell um uns herum.
„Dieses hungrige Fragen der Menschen ist ein Kennzeichen des Gottesgeistes, der im Menschen längst schon lebendig ist. Der Mensch könnte nicht nach dem Licht fragen, wenn er das Licht nicht schon als Schimmer über dem Horizont erkannt und geschaut hätte. Der Mensch kann nach diesem Geiste, nach dem Großen und Letzten nur fragen, weil er es anfänglich und dämmernd bereits geschaut und erkannt hat.“ (Franz Kardinal König)
Wir feiern heute den vierten Fastensonntag - „Laetare“- Freudensonntag. In der Farbe rosa dringt bereits ein Schimmer des Lichts, ein Schimmer der Freude auf das Osterfest durch: Wir alle sind zum Leben berufen, mag es um uns herum auch noch so dunkel sein.
Ludger Verst, Diakon