19. März 2006, 3. Fastensonntag
Ex 20,1-17
 
 
Liebe Gemeinde!
  
Zu wissen, wo es lang geht, wie man sich in schwierigen Situationen entscheiden soll - das ist ein Wert, den viele Menschen ersehnen.
 
Viele leiden unter einer Orientierungslosigkeit. Die scheinbar fast unbegrenzte Freiheit in der Wahl der Entscheidungen hat gleichzeitig auch zu einer Beliebigkeit, zu einer Orientierungslosigkeit geführt, unter der viele leiden. Welche Werte können eine Leitschnur im persönlichen Leben sein, an denen man sich ausrichten kann und die in schwierigen Situationen Hilfe geben?
 
Auf der anderen Seite ist die Angst vor einer Bevormundung unübersehbar. Die eigene Freiheit ist ein hohes Gut und darf nicht durch äußere Reglementierungen eingeschränkt und beschnitten werden.
 
In diesem Spannungsfeld zwischen vorgegebenen Werten und Normen und dem Wunsch nach Selbstbestimmung und eigener Entscheidungsfreiheit begegnen  uns in der jüdisch-christlichen Tradition die Zehn Gebote.
 
Die Zehn  Gebote gehören sicher mit zu den großen Errungenschaften der zivilisierten Welt. Aber in ihrem eigenen Selbstverständnis sind sie nicht nur eine geniale Zusammenfassung der Grundregeln, die das menschliche Zusammenleben erst ermöglichen.
 
Israel hat immer gewusst, dass diese Zehn Sätze in den Zusammenhang einer Rettungsgeschichte gehören. Ohne ihren Kontext, die in der Einleitung, der Präambel zum Ausdruck gebracht ist, verlieren sie ihren Glanz, vergleichbar mit einer Perle, die keine Fassung mehr hat und so verloren zu gehen droht.
 
Die Zehn Gebote sind kleinbürgerlichen Moralvorschriften die zur Disziplinierung des Gottesvolkes geeignet scheinen, sondern die erinnernde Feier einer Rettungsgeschichte und damit Ausdruck des Fundaments, von dem her Israel sich versteht: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus befreit hat!“ (Ex 20,2).
 
Diese Geschichte der Befreiung und der Rettung hat Israel aus der Macht der Staatsreligion in eine erlöste und befreiende Religion geführt, in der es nur eine bleibende Macht gibt: die unerklärlich treue Liebe Gottes zur Welt.
 
So ist Israel zu einer Lebensordnung befreit, die nicht mehr von der Willkür eines Staates und nicht mehr von der Willkür der Mächtigen bestimmt ist.
 
Darum werden die Zehn Gebote auch immer wieder die Zehn Freiheiten des Gottesvolkes genannt.
 
Die ersten drei Gebote sind die weitaus am ausführlichsten begründeten. Sie sprechen von Gott als dem Einzigen Gott, über den hinaus keine Macht der Welt den Menschen in Anspruch nehmen kann.
 
Wie sehr die Erinnerung an diesen einen, befreienden Gott den Glauben Israels geprägt hat, erzählt eine chassidische Geschichte:
 
Ein Schüler fragt den Rabbi: „Rabbi, warum heißt es zu Beginn der Zehn Gebote: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus geführt hat. Darum sollst du... !“ Warum heißt es nicht z.B.: „Ich bin der Herr, dein Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Darum sollst du...“  Der Rabbi überlegt einen Moment und antwortet: Wenn es heißen würde: „Ich bin der Herr, dein Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat...“ dann würde der Mensch sagen: „Das ist mir zu groß. Zu diesem Gott traue ich mich nicht heran. Aber nein: Gott spricht: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus geführt hat!“ Das heißt: Ich habe dich in deinem Dreck, in deinem Elend gesehen - und so habe ich mich dir zugewandt in all deiner Not und in all deinem Schreien!“
 
Neben diesem Gott einen anderen „Gott“ zu haben führt von neuem in Abhängigkeit und Versklavung. Allein der Glaube, die Bindung an diesen einen Gott, der in die Freiheit führte und führt ist derart, dass sie den Menschen nicht von neuem versklavt.
 
Dieser Gott übersteigt all unsere Vorstellungen und ist deshalb nicht zum Haben und nicht abbildbar, wie es das zweite Gebot ausdrückt.
 
Den Sabbat zu heiligen (drittes Gebot) erinnert daran, dass wir aus der Freiheit Gottes leben und berufen sind, unversklavt zu sein und zu bleiben.
 
Die ausführlichen Begründungen gerade der ersten drei Gebote dürfen nicht weggelassen werden zugunsten einer rein humanistischen Deutung der anderen sieben Gebote, die das sozialverträgliche Zusammenleben der Menschen zum Thema haben. Diese bekommen ihre radikale, revolutionäre und unveränderliche Bedeutung gerade aus der erfahrenen Zuwendung Gottes zu den Menschen.
 
Dieses Gottesbild, das uns in den ersten drei Geboten  begegnet, ist durch die Geschichte Israels unübersehbar in die Welt eingemeißelt. Es ist eine revolutionäre Sicht der Wirklichkeit Gottes, die uns durch das auserwählte Volk geschenkt worden ist, die in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden kann. Von diesem Gottesbild her ist unsere Kultur und Religion entscheidend geprägt.
 
Für diesen Gott Zeugnis zu geben sind wir gerufen - zusammen mit dem auserwählten Volk Israel. Wir befreit, aus einer Haltung zu leben, die das Geschenk der Freiheit und der Würde des Menschen sichtbar macht.
 
Amen
 
Harald Fischer