22. Januar 2006, 3. Sonntag im Jahreskreis
Mk 1,14-20

 
Liebe Gemeinde!
 
Viele Menschen - vielleicht viele von uns, vielleicht sogar wir alle, erleben sich immer wieder eingespannt zwischen so vielen Anforderungen, die das eigene Leben bestimmen. Da ist die Arbeit, die Familie, viele Konflikte, die das Leben ausmachen, soziale, ökonomische Grenzen, die unser Leben bestimmen. Manchmal kann man sich fragen, ob es überhaupt Freiräume gibt, in denen man das eigene Leben selber bestimmen kann.
 
Wenn wir dann noch unsere eigenen Begrenzungen wahrnehmen, kann man den Eindruck bekommen, es gibt eigentlich keine Freiräume. Wir werden mehr gelebt, als das wir selber unser Leben bestimmen und beeinflussen könnten. Die Tage laufen im eigenen festen Rhythmus  und oft scheint heute schon klar zu sein, was morgen ist und wie der Tag übermorgen gestaltetet sein muß. Welche Freiheit gibt es noch, das Leben als eigenes Leben zu gestalten?
 
Und genau in diese Situation hinein hören wir den heutigen Ruf des Evangeliums, hören wir das Wort Jesu: „Auf, kommt. Folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen!“ (Mk 1,17).
 
Was können wir mit einer solchen Einladung, einer solchen Aufforderung überhaupt anfangen? Wir sind doch so festgelegt, dass es keinen Raum für anderes gibt. Ich kann nicht meine Familie verlassen, verantwortungslos gegenüber denen handeln, denen ich verpflichtet bin. Und erst recht nicht kann ich mich meinen eigenen Begrenzungen hinter mir lassen, so sehr ich das auch gern möchte.
 
Welche Bedeutung könnte so ein Wort für mein konkretes Leben überhaupt bedeuten?
 
Wenn Jesus diese Aufforderung ausspricht, geht er offensichtlich davon aus, dass der Mensch Freiheit hat, sich dazu zu verhalten. Für ihn gilt, was wie als Vorwort zu seinem ganzen Leben, zu seiner ganzen Botschaft zu gelten scheint und Markus wie als Überschrift über das Leben und Wirken Jesu stellt: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15)-
 
Die Zeit ist erfüllt!
 
Was für eine Aussage ist das über unser Leben. Manchmal, oft, erleben Menschen ihre Zeit als leer, banal, belanglos, trotz der Fülle und der Überfülle, die sie manchmal ausfüllt.
 
Die Zeit ist erfüllt. Wir leben in einer gefüllten, erfüllten Zeit - so sieht es Jesus nach dem Zeugnis des Evangelisten. Warum? Weil darin das Reich Gottes angebrochen ist, weil Gott sich in unserem konkreten Leben sichtbar machen will. Unser Leben ist voll der Gegenwart Gottes.
 
Es ist gut, dass uns das zugesagt wird, weil unser eigenes Leben sich oft genug so anders „anfühlt“: Wir erleben diese Tatsache oft nicht wirklich. Es ist das Wesen von Offenbarung - das uns gesagt wird, was wir im Blick auf unser eigenes Leben nicht wahrnehmen, weil es von anderen Dingen, anderen Gefühlen, anderen Eindrücken verstellt wird. Damit wir nicht am wesentlichen vorbeigehen, darum wird es uns zugesagt: „Die Zeit ist erfüllt. Das REICH Gottes ist nahe!“. Das ist - oft genug gegen den Anschein - die eigentliche Wirklichkeit meines Lebens..
 
Dieser Botschaft gegenüber gilt es sich zu verhalten. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns aus dem Selbstverständnis der Begrenzung und der  Einengung verstehen oder ob wir diese Weite der Sicht Jesu auf unser Leben hin als Grundlage unseres Selbstverständnisses machen können.
 
Simon, Andreas, Johannes, Jakobus lassen sich von dieser anderen, der neuen Sicht ihres Lebens ansprechen. „Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten Jesus nach!“ (Mk1,18).
 
Simon Petrus folgt nach, aber als der, der er ist. Er bleibt auch weiter der Mensch, der sich vom Überschwang leiten läßt und der nicht sehr zuverlässig ist und bleiben wird. Oder Thomas, von dem wir später hören werden. Er bleibt auch zukünftig der, der eher von Skepsis und von Zweifeln bestimmt ist. Oder Jakobus und Johannes - auch zukünftig sind sie Menschen, die eher von autoritärem Verhalten bestimmt sind. Menschen, die Jesus nachfolgen, werden dadurch nicht einfach in ihrer Persönlichkeit ausgetauscht und völlig verändert. Sie bleiben auch später die, die sie vorher waren. Aber sie stellen ihr Leben und sich mit ihrem Selbstverständnis in den Zusammenhang der Botschaft Jesu: Die Zeit ist erfüllt. Mein Leben ist erfüllt. Ich lebe mit allem, was zu mir gehört, aus dem Bewußtsein der Gegenwart Gottes.
 
Im Evangelium hören wir: „Sofort ließen sie ihre Netze liegen und folgten Jesus nach“ (1,18). Wenn wir den dann folgenden Satz, der nicht mehr zum heutigen Evangelium gehört, dazu nehmen, lesen wir: „Und sie kamen nach Kafarnaum“ (21). Dort gehen sie in das Haus des Simon Petrus. Dort werden sie für längere Zeit leben. Nachfolge heißt nicht, alle Brücken zur eigenen Vergangenheit aufzugeben und die Verantwortung, für die Menschen, die zu meinem Leben gehören, in den Wind zu schlagen. Nachfolge heißt, mich mit meinem konkreten Leben und der Wirklichkeit, die zu mir gehört, an der Botschaft Jesu zu orientieren.
 
„Sofort liegen sie ihre Netze liegen...“ - Ja, es kann schon bedeuten, dass ich etwas loslassen, etwas liegen lassen muß, nämlich das, was  mich daran hindert, mich aus diesem Selbstverständnis der Freiheit und der Weite, wie sie mir in der Botschaft Jesu begegnet, zu verstehen.
 
Loslassen, verlassen - aber nur, um das MEHR zu gewinnen, das in der Reich -Gottes Botschaft Jesu verheißen ist.
 
Amen.
 
Harald Fischer