31. Dezember 2005, Silvester


Der Silvester-Tag drängt einen alljährlich zu Rückblick und Ausblick, liebe Gemeinde. Vielleicht auch darüber nachzudenken, warum wir in diesen letzten Tagen und Stunden des Jahres die Zeit als solche spürbar wichtig nehmen. Wir haben ja sonst eher den Eindruck, Zeit sei etwas, was geht und vergeht, ein in etwa gleichbleibendes Kontinuum. Es gehe eigentlich immer so weiter. Nur manchmal fällt uns auf, dass tatsächlich etwas zu Ende geht: Ein Tag geht zu Ende oder - wie heute - ein Jahr. Oder wie vor kurzem: ein Jahrhundert, ein Jahrtausend. Manchmal geht auch ein ganzes Leben zu Ende. Unsere Zeit ist befristet, nicht nur unsere persönliche Lebenszeit, die Zeit überhaupt. Das prägt unsere Lebenseinstellung: Welt und Mensch haben aus sich heraus ein Verfallsdatum. Das ist ein Faktum: das Ganze hier hat ein Ende. Aber - mögen einige einwenden - ist das denn die ganze Wahrheit? Die ganze Wahrheit unseres Glaubens? Wir Christen sind unterwegs und erwarten am Ende einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.

Viele rechnen heute mit einer Wiedergeburt, nicht nur im Tod, sondern bereits im Leben. Sie meinen, alles sei wiederholbar. Die Jugend kann neu beginnen mit Facelifting und Fun-Kultur. Das Scheitern von Beziehungen sei revidierbar. Man geht ein neues Verhältnis ein, beginnt eben von vorn. Keine Entscheidung ist endgültig, solange Quittungen den ständigen Umtausch ermöglichen. Alles ist ersetzbar, alles kann ausgewechselt werden. Schließlich wird dann auch das Leben selbst auswechselbar. 

Die christliche Lehre vom Menschen macht einen Strich durch diese Rechnung. Sie spitzt unser Zeitverständnis auf das Äußerste zu. Man kann die Zeit nicht einfach wiederholen. Wer bin ich, wenn ich schon x-mal ein anderer gewesen sein kann, wenn mein Leben die Neuauflage eines anderen, bereits anderswo gelebten Lebens ist? –Jeder Mensch ist einmalig. Die Zeit, die uns hier und jetzt zu leben geschenkt ist, kommt nicht wieder. Sie ist durch den Tod befristet. Man kann nicht auf Probe leben, und man kann erst recht nicht auf Probe sterben. 

„Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens ... .“ Man kann diese durchaus tiefsinnige Sentenz je verschieden bewerten. Die Jüngeren werden denken: Rest des Lebens? Für mich ist das Leben kein Rest, ich habe es noch vor mir. Gott sei Dank! Aber wie immer wir es wenden, die Sanduhr des Lebens läuft auch für die Jüngeren unter uns. Niemand weiß, wie lang sein Lebensvorrat bemessen ist. Nur soviel ist sicher: Heute ist ein erster Tag. Heute ist die Chance eines neuen Anfangs. Der erste Tag vom Rest.

Was machen wir mit der uns geschenkten Zeit? - Wir können sie versilbern: Zeit ist Geld. Wir können sie vertreiben oder vertun, wir können sie auch totschlagen. Und wir können sie weiterschenken. Wir können anderen Zeit schenken: die Eltern den Kindern und die Kinder den Eltern, einer dem anderen. Die Zeit kann zum kostbarsten Geschenk werden, das wir füreinander haben. Denn mit der Zeit geben wir nicht nur etwas, sondern uns selbst. Haben wir Zeit dafür? Oder ist es umgekehrt: Hat die Zeit uns? 

„Wo ist die Zeit geblieben?“, fragen wir oft. Die Sanduhr kann uns in dieser Frage zum Zeichen werden. Der Sand, der aus der oberen Schale nach unten rinnt, läuft nicht ins Leere. Die Zeit läuft nicht weg. Sie wird aufgefangen, gesammelt. Ich kann in dem unteren Glas der Sanduhr Gottes Hände erkennen. Sie fangen meine Zeit auf, dass sie nicht im Sande verläuft. 

Weihnachten haben wir diese Hoffnung gefeiert in der Geburt des Gottessohnes. Die Hoffnung hat einen Namen: Jesus. Und der Name ist Programm: Jesus heißt: „Gott rettet!“ - Ganz anders, als wir uns das womöglich ausdenken: Er strebt nicht hoch hinaus, er ist tief herunter gekommen - in unsere Zeit, in unsere Zeitnot. Er ist dabei bis zum Äußersten gegangen, bis in die letzte Hütte, in die Futterkrippe. Er wollte die Welt von ihrem schwächsten Punkt her retten. Er hat den Erweis seiner Göttlichkeit nicht dadurch erbracht, dass er mit majestätischem Wink von oben herab zeitlos alles regelt, sondern so, dass er sich in die Niederungen und Untergangsszenarien dieser Welt Tag für Tag, Stunde für Stunde einlässt. 

Die Komplet, das Abendgebet der Kirche, greift diese Zuversicht in die wirkliche Menschennähe Gottes in dem Satz auf: „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben.“ Das Wort ist mir mit den Jahren immer wichtiger geworden. Ich sehe meine Hände, was sie tragen können und was nicht, was sie ausrichten, und was sie anrichten. Je mehr ich das spüre, desto mehr hilft es mir, wenn ich am Abend eines Tages sagen kann: „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben.“ Das ist wie eine Einübung ins Loslassen, ins Schlafen. Der Schlaf ist eine Einübung ins Sterben. Viele wünschen sich, dass sie am Ende ihres Lebens sagen können: „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben.“

Es gibt ein Wort des Propheten Jesaja, das Martin Buber so übersetzt hat: „Wer glaubt, beschleunigt nicht“ (Jes 28,16). Er kann sich und anderen Zeit lassen, wie Gott uns Zeit lässt. Er ist von dem Druck befreit, selber den Himmel auf Erden schaffen zu müssen. Er weiß, dass Gott in seinem Lebensvorrat noch mehr zu bieten hat als die kurze Spanne unserer Lebenszeit. Darum muss er nicht in Hektik geraten, um ja nichts zu verpassen. Er kann sich gelassen der Gegenwart zuwenden. Gott erfüllt die Zeit und die Ewigkeit. Sie stehen in Gottes Händen.

Jochen Klepper, von dem eine Reihe bekannter Kirchenlieder stammen, hat diese Einsicht 1938 zu folgendem Gebet verarbeitet:
„Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last 
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ 
die Mitte fest gewiesen ist, 
führ uns dem Ziel entgegen!
Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.
Der du allein der Ew'ge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unserer Zeiten:
Bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.“

Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti, Münster (1883)
„Herr, setze dem Überfluss Grenzen
und lasse die Grenzen überflüssig werden.
Lasse die Leute kein falsches Geld machen,
aber auch das Geld keine falschen Leute.
Nimm den Ehefrauen das letzte Wort
und erinnere die Ehemänner an ihr Erstes.
Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde.
Bessere solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute,
die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind.
Gib den Regierenden ein besseres Deutsch
und den Deutschen eine bessere Regierung.
Herr, sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen, 
aber nicht sofort!“
(Aus: Perthes-Post 1/99)

Ludger Verst, Diakon