27. November 2005, 1. Adventssonntag
Mk 13, 33 - 37


Liebe Gemeinde!

Die Bilder der Liturgie zum Advent sind nicht süßlich, still, besinnlich. Im Gegenteil: Sie sprechen von Erschütterungen und Katastrophen, die die Menschen herausfordern und die die Welt umstürzen.
Diese Bilder werden nicht gebraucht, um den Menschen Angst zu machen, sondern um eine Glaubenswirklichkeit zu benennen: Das was ist, was jetzt wert und Bestand hat, unsere Welt wird konfrontiert mit der Wahrheit Gottes. Und in dieser Konfrontation wird alles, selbst das, was für uns so unverrückbar und fest erscheint wie Himmel und Sonne, wie der ganze Kosmos, erschüttert.
Gottes Wirklichkeit bricht in diese Welt ein, unaufhaltsam, wirksam und erschütternd. Mit den Augen des Glaubens ist diese Wirklichkeit sogar schon zu sehen. Heute und im Hier und Jetzt. In unseren Verhältnissen, in meinem eigenen Leben.
So mahnt das Evangelium zur Wachsamkeit, um diese Wahrheit wahr zu nehmen. Wir sollen uns einüben in die Haltung der Wachsamkeit, damit das Entscheidende nicht an uns vorbeigeht, ohne dass wir es merken. 
In einer jüdischen Lehrerzählung sagt der Rabbi zu den Schülern: „Mit all unserem Beten und Tun können wir zur Erlösung der Welt nur soviel beitragen, wie wir den Aufgang den Sonne beeinflussen können.“ Die Schüler waren erschrocken und fragten: „Was hat denn dann all unser Mühen für einen Sinn?“ Der Rabbi antwortet: „Damit wir wach sind, wenn die Sonne aufgeht!“
Die Haltung der Wachsamkeit einüben, bedeutet, wahrnehmen, was in der Welt ist und was in mir ist. Das Evangelium gebraucht dafür das Bild des Türhüters. Der Türhüter ist der Inbegriff der Wachsamkeit. Er weiß, wen er in das Haus einläßt und wer sich darin aufhält.
Im frühen Mönchtum ist dieses Bild des Türhüters immer wieder aufgegriffen worden. Wachsein bedeutet nicht, auf irgendeinen Supergau zu warten und sich darauf vorzubereiten, sondern sich selber kennen zu lernen, sich selber wahrzunehmen. Nicht, um zu verurteilen oder abzuwerten, sondern um die eigenen Gedanken, Gefühle, Regungen zu erkennen und bewußt mit ihnen zu leben und so zu erkennen, wo Gott heute handelt, an mir und in mir handelt.
Anselm Grün schlägt eine Übung vor, um in die Haltung des Advents, in die Haltung der Wachsamkeit  zu kommen: Eine halbe Stunde bewußt vor Gott sitzen. Nicht nachdenken, meditieren oder beten. Einfach nur da sein und mir vorstellen, wie aus der Stille Gedanken, Gefühle aufsteigen und an meine innere Tür pochen. Als wachsamer Türhüter geht es dann darum, sie wahrzunehmen, sie zu erkennen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie zu befragen: Was willst du mir sagen? Welche Sehnsucht steckt in dir? 
So eine Übung ist nicht ganz leicht und kann Angst machen. Manche denken: Wenn ich das tue, dann bricht ein Vulkan in mir los, den ich nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Aber es braucht auch viel Energie, so einen Vulkan unter Verschluß zu halten. Und manche Müdigkeit und Erschöpfung kommt auch daher, dass man sich den Themen nicht stellen will, die sich einem unweigerlich aufdrängen, wenn man auf sich hört.
Vielleicht macht sich in einer solchen Übung der Ärger auf einen Arbeitskollegen bemerkbar. Wenn ich ein solches Gefühl wahrnehme, mit ihm innerlich umgehe, ist es natürlich nicht einfach weg, aber es überschwemmt mich nicht mehr. Vielleicht tauchen Eifersucht, Neid, Traurigkeit, Angst auf. Alle diese Gefühle sind Teil meiner selbst, wollen mir etwas sagen und gehören zu mir. Sie dürfen sein. In ihnen zeigt sich eine Sehnsucht: nach Frieden, nach Klarheit, nach dem Wunsch, mich von den Erwartungen der anderen zu befreien oder auch die Vorstellungen und Erwartungen, die mich überfordern, loszulassen.
Wenn ich mit solchen Gefühlen umgehe, können sie zu Vertrauten, vielleicht sogar zu Freunden werden, die mich auf etwas wesentliches hinweisen.
Die Adventszeit kann so zu einer Zeit der Wachsamkeit auf mich selbst werden. Mich selber wahrnehmen ist die Voraussetzung dafür, diese Welt wahrzunehmen. Ich bin ja in gewisser „Mittelpunkt“ der Welt, weil ich sie von mir her wahrnehme - und sie durch mich, durch meine Person wahrnehme. So kann sie zu einer Zeit werden, die mir hilft, mit meinen Sehnsüchten in Berührung zu kommen. Das wird heilsam, wenn ich so zu mir Ja sagen lerne, auch zu meinem Leben in seiner Durchschnittlichkeit.
In diesem Wahrnehmen meiner Selbst kann ich die Gegenwart Gottes erkennen lernen. Er zeigt sich - in dem Kleinen meines Lebens und meines Alltags. So bricht er in meine Wirklichkeit ein.
Weder mein Erfolg, meine Arbeit, meine Familie oder die Anerkennung durch  Andere können auf Dauer meine Sehnsucht stillen. Wenn ich sie wahrnehme, immer neu, wird sie mir zum Wegweiser zu der Verheißung, die allein in der Lage ist, diese Sehnsucht zu stellen. Die Texte des Advents stellen mir diese Wirklichkeit immer wieder neu vor: Gott, der sich mir schenken will.

Amen.

Harald Fischer