30.10.2005, 31. Sonntag im Jahreskreis
Mt 23,1-12


Wenn man die Evangelien liest, Schwestern und Brüder, besonders das Matthäusevangelium, dann kann man an vielen Stellen den Eindruck gewinnen, dass immer auf die Pharisäer eingedroschen wird. Man könnte fast meinen: Alles, was Jesus an Vorwürfen zu äußern hat, das wird gebündelt in der Kritik an den Pharisäern. Sie stehen für das Gegenteil von Wahrhaftigkeit: für mehr Schein als Sein, für Lippenbekenntnisse, für Heuchelei. Das ist schon eigenartig. Noch eigenartiger ist, dass der Evangelist Matthäus das alles aufgeschrieben hat. Denn als er dies tut, deutlich später als 70 n. Christus, da gibt es gar keinen Tempel mehr in Jerusalem, die Synagogengemeinden befinden sich in der Krise und Pharisäer gibt es keine mehr.
 
Warum also dann dieses strenge Urteilen? - Wenn man sich in das Evangelium von heute vertieft, das ja vordergründig auch wieder auf die Pharisäer eindrischt, dann merkt man, dass Matthäus letztlich gar nicht mehr die Pharisäer als solche im Blick hat, sondern dass er mit dem, was er mit Jesu Worten hier über sie sagt, beispielhaft die Gefahr veranschaulicht, in der vor allem die Frommen stehen, Kirchenexperten generell. Nämlich: Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammenzubringen. So zu reden und anders zu handeln. „Richtet euch nach ihren Vorschriften. Folgt aber nicht ihrem Beispiel!“, warnt Jesus die Volksmenge. Und den Mehrscheinern hält er einen Spiegel vor. Ihr habt zwar das richtige Wissen, aber in der Anwendung dieses Wissens seid ihr halbherzig. Ihr tut nur so, als ob. Der Form nach stimmt alles. Nach außen hin ist alles o.k. Und wie schaut’s drinnen aus? - Da kann so ein vorgehaltener Spiegel ziemlich unangenehm sein.
 
Was Jesus dann sagt, macht das Urteil nicht verträglicher. „Was sie [die Pharisäer] tun, das tun sie nur, damit die Menschen es sehen.“ Anders ausgedrückt: Sie betreiben Imagepflege. Sie sind ja auch wichtig. Ohne sie würde etwas fehlen im System. Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind dazu eingesetzt, das Gesetz des Mose auszulegen. Nur - das eigene Image in der Gemeinde ist ihn bald wichtiger als die Botschaft, die es zu verkünden gilt. Ihre fromme Exzentrik gerät zur bloßen Äußerlichkeit. Sie machen die Quasten an ihren Gewändern lang. Bei den Festen wollen sie die Ehrenplätze bekommen und auch in der Synagoge sitzen sie in der ersten Reihe. Promis, wie sie im Buche stehen. Ihr Outfit ist vorbildlich. The show must go on. Es gefällt ihnen, wenn man sie ehrfurchtsvoll grüßt und „Meister“ nennt.
 
Worauf es Jesus in seiner Predigt nun ankommt, ist, diese Einstellung zu korrigieren. Nur einer verdient es, dass man ihn „Meister“ nennt: der Vater im Himmel. Der Schöpfer-Gott, der seine Geschöpfe meisterhaft geschaffen und ins Dasein gerufen hat und ruft. Sein Meisterplan war es, durch Jesus Christus die schuldig Gewordenen dieser Welt mit ihm zu versöhnen und ihnen neues Leben zu schenken. Deshalb sollen wir diesen Gott, und nur diesen, „Meister“ nennen. Nicht uns selbst. Wir sind durch Jesus Christus miteinander verbunden Brüder und Schwestern. Geschwisterlicher Umgang, Achtsamkeit, gegenseitige Verantwortung sind deshalb Prägemerkmale, die uns zukommen. Biblisch ausgedrückt: geschwisterlicher Dienst. Indienstnahme auf gleicher Augenhöhe.
 
Gerade das aber leisten die so genannten Pharisäer nicht. Sie dienen nicht. Sie lassen sich bedienen. Wenn sie wenigstens zur Schau stellten, dass sie dienen, dann könnten Andere es - womöglich besser - nachmachen. Wenn die Pharisäer nicht nur sich, sondern auch den ihnen Anvertrauten „Ehrenplätze“ verschafften, dann hätten sie ihren eigenen vielleicht sogar verdient. Denn jemandem ohne Rang und Titel einen Platz in der ersten Reihe zu vermitteln, das verdiente Anerkennung. Weil er im Anderen zuerst den Bruder oder die Schwester sieht und sich fragt: Was kann ihm oder ihr gut tun? Was fehlt an Informationen, an gutem Rat? Was lässt meinen Bruder, meine Schwester menschlich wachsen? Was macht meinen Nächsten groß vor den Anderen? So wie er, wir alle von Gott von Anfang an gedacht, angesehen und gut geheißen sind.
 
Wer seinem Nächsten mit solcher Wertschätzung begegnet, vollzieht „Gottes Gutheißung des Menschen“ nach (E. Schillebeeckx). Am Grund dieser Gutheißung steht, dass Gott alle Menschen erschaffen hat und dass er für alle eintritt ohne Unterschied. Unser Dienen ist daher Dienst am Anderen, Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes, das ja nicht abgeschlossen ist, sondern jede Sekunde weitergeht.
 
Aus dieser Perspektive ist Dienen so etwas wie „Ehrensache“: 
- zur Ehre Gottes, dem wir verdanken, was wir sind und was wir geben,
- zur Ehre unseres Nächsten, dem wir verdanken, dass wir überhaupt jemandem etwas geben können,
- am Ende uns selbst zur Ehre: denn das, was wir geben ist das, was uns glücklich macht.

Ludger Verst, Diakon