27. Februar 2005, 3. Fastensonntag
Joh 4, 5-42


Man kann den Eindruck gewinnen: Christsein ist schon eine verkehrte Welt –, wenn man dem Evangelium von heute Glauben schenken darf. Vordergründig scheint alles normal: Ein unbekannter Mann begegnet einer unbekannten Frau am Brunnen, also an einem zunächst ganz unspektakulären Ort. Im Orient lernen sich Menschen an Brunnen kennen. Eine alltägliche Begegnungsstätte. Und Wasser holen war damals Frauensache, auch wenn’s körperlich ziemlich anstrengend war. Aber von einem jüdischen Mann, allem Anschein nach einem Rabbi oder Wanderprediger, angesprochen zu werden, das war nicht normal, und wenn man genau hinsieht, sogar ziemlich daneben. Die Sitte verlangte nämlich von Juden strenge Zurückhaltung gegenüber Frauen. Und eine nichtjüdische Frau in der Öffentlichkeit anzusprechen und sie um etwas zu bitten, widersprach erst recht allen gängigen Verhaltensregeln. Doch dies ist offensichtlich die Art Jesu, Kontakt aufzunehmen. Es ist ja in den Evangelien kein Einzelfall: der blinde Bartimäus, der geldversessene Zachäus, der Gelähmte am Sabbat. Es fällt auf: Jesus spricht an, wen er will. Er stellt den einzelnen Menschen über ein Verhaltensprinzip. „Das tut man nicht“ ist keine Weisheit Jesu.
 
Aber es geht ja noch weiter. Dieser rätselhafte Unbekannte am Brunnen will ja nicht nur zu trinken haben; er selbst macht ein ziemlich unerhörtes Angebot:
 
„Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“
 
Das Gespräch am Brunnen bleibt keine Einbahnstraße: Die eine gibt, der andere nimmt, wie es sich nach Recht und Sitte gehört hätte; sondern: Gibst du mir was von dir, kriegst du auch was von mir. Die Samariterin versteht das nicht sofort. Wie denn auch? – Wie und womit hätte der Unbekannte schöpfen sollen? „Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief.“ – Und erst recht: Woraus hätte er Wasser nehmen sollen, das für alle Zeiten keinen Durst mehr macht? Der Jakobsbrunnen hatte zwar Tradition, aber so ein „Super-Wasser“, einen ewigen Durstlöscher hatte er bislang nicht geliefert.
 
In die zunächst alltägliche Situation am Brunnen zieht eine merkwürdige Spannung ein. Das Gespräch gewinnt Tiefe. Der Wanderprediger und die Frau, von der es heißt, sie habe mit einer Reihe von Männern ihr Glück versucht, es aber bei keinem gefunden, finden sich. Eine ganz neue Männer-Erfahrung dieser Frau. Beide finden sich – in ein Gespräch vertieft, in dem der Fremde und doch irgendwie Vertraute zu wissen oder mit den Augen seines Herzens zu sehen scheint, was Sache ist. Was die innere Not der Samariterin ist. „Ich sehe, du bist ein Prophet“, erwidert sie. Und sie kann ihre Geschichte, die ganze Wahrheit über sich zulassen und aus den Tiefen ihrer Seele heraufholen.
 
Die Wahrheit eines Lebens findet sich nicht an der Oberfläche. Was wir sehen, wenn wir aufschauen, sind Oberflächen. Es sind oft nur Umrisse, Formate, Schablonen, in die wir uns gegenseitig hineinstecken. Gut gestylte Benutzeroberflächen, aber bestimmt nicht die Wahrheit. Das Gespräch am Brunnen zeigt etwas Anderes. Es führt, wohin alle Brunnen führen: in die Tiefe. Jesus ist an der Wahrheit eines Menschen interessiert. Am Dahinter und Darunter. Und da steckt sehr viel.
 
Was mich an diesem Brunnengespräch fasziniert, ist, wie aus einem Allerweltsort ein heiliger Ort werden kann, aus einem Allerweltsgespräch so etwas wie ein Glaubensgespräch. Wie nah das Brunnenwasser und das „Wasser des Lebens“ beieinander liegen, ja genau genommen, ein und dasselbe sind. Je nach dem, wie tief du schaust und was du da unten siehst – in dir oder im Anderen. Jesus sieht in der Frau nicht die Samariterin, mit der er als Jude nicht verkehren dürfte, sondern einen Menschen auf dem Weg zu seiner Quelle. Dorthin, wo es im Leben brodelt und kocht und wo der Ursprung liegt von allem, was ist. Die Samariterin am Jakobsbrunnen sucht Wasser und weil sie tief schürft, trifft sie nicht nur auf Wasser, sondern auf sich selbst. In der Begegnung mit dem Unbekannten, Jesus, kann sie sich selbst und die Kostbarkeit ihres Lebens erkennen – „im Geist und in der Wahrheit“, wie es Joh (4,23) nennt. Deshalb ist Jesus wie Leben spendendes Wasser, „eine sprudelnde Quelle, deren Wasser ewiges Leben schenkt“.
 
Und noch was: Der Mensch selbst ist der Ort der Begegnung mit Gott. Die Suche nach einer Quelle, an der man leben kann, ist keine Frage nach einer "Insel der Seligen", sondern eine Suche nach dem Sinn, nach dem Heilsamen, nach heilender Begegnung. Heilende Begegnungen sind vielleicht selten, zu selten, aber durchaus öfter als wir ahnen. Ein außerhalb der Bibel überliefertes Jesuswort sagt: „Begegnet dir ein Mensch, begegnet dir Gott.“ Was uns durch die Welt treibt, ist die ruhelose Suche nach Menschen, in denen mir Gott begegnet, die mich verstehen, bei denen ich mich nicht zu verstellen brauche, wo die Sorge um meine Fassade nicht wichtig ist, wo die „doppelte Buchführung“ wegfallen kann, ich einfach so sein kann, wie ich bin. Die Samariterin im Evangelium begegnet in Jesus einem solchen Menschen. Und es passiert, was offenbar typisch ist in solchen Situationen. Sie lässt alles stehen und liegen – wie die Männer am See Genezareth – und wird eine Botschafterin Jesu: „Da ließ die Frau ihren Wasserkrug stehen, eilte in den Ort und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mann, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe. Ist er vielleicht der Messias? – Da liefen sie hinaus aus dem Ort und gingen zu Jesus.“

Ludger Verst