30. Januar 2005, 4. Sonntag im Jahreskreis
Mt 5, 1 – 12


Liebe Schwestern und Brüder!

Wir Menschen leben von Hoffnungen und von Träumen, die uns über den Alltag, über die Gegenwart hinaus heben und uns Kraft geben. Manchmal braucht man in den Niederungen des Alltags solche Träume, um über die eigenen Begrenzungen hinaus zu sehen und eine neue Weite zu erahnen, die uns packen kann und an der wir uns aufrichten können.
 
Die Bergpredigt ist ein solch faszinierender Traum. Sie ist eine Quelle der Hoffnung, der Inspiration für unzählige Menschen heute und sie war es in den vergangenen 2000 Jahren. Nicht viele Texte haben eine solche Kraft entwickelt, haben Menschen so geprägt und beeinflußt, wie diese wunderbare Rede, die Matthäus aus dem Munde Jesu überliefert.
 
Im heutigen Evangelium wird Jesus als der neue Mose dargestellt. Wie Mose nach dem Auszug aus Ägypten auf dem Sinai die Thora, die 10 Gebote, das Lebenswort an Israel empfangen und an sein Volk weitergegeben hat, so steht heute Jesus auf einem Berg und diesmal lehrt er die Worte des Lebens. Er gibt sie im Auftrag und in der Vollmacht Gottes weiter an sein Volk. Die Jünger treten zu ihm und autorisieren ihn, das endgültige Wort zu sprechen. Er, der König der Königsherrschaft Gottes, verkündet die Grundsätze seines Königreiches.
 
Jesus spricht uns in seiner Botschaft, in seinem Leben, die vollkommene Nähe Gottes zu, aber er ruft uns auch zu einer vollkommenen Hingabe an Gott und an die Menschen.
 
Oft denkt man, das sei die Überforderung schlechthin. Wenn wir in der Bergpredigt ausdrücklich hören: „Seid vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist“ – dann kann man geneigt sein zu sagen: Nichts für mich! Das kann ich nicht! Das bin ich nicht!
 
Wie ein Kommentar zu solchen Einwänden schildert Matthäus unmittelbar an die Bergpredigt vier Krankenheilungen als wollte er sagen: „Zunächst müssen wir heil werden, uns heilen lassen. Wir können Gottes Heil nicht schaffen. Wir müssen es uns schenken lassen. Erst als Menschen, die sich so von Jesus haben heilen lassen, sind wir offen, zu empfangen, zu tun und weiterzutragen, was er uns gesagt hat.“
 
Und eine zweite Vorbemerkung ist wichtig, wenn man sich der Bergpredigt nähern will: Sie ist nicht unterschiedslos zu allen Menschen gesprochen. Wir hören in der Einleitung ausdrücklich: „Als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.“ (5,1)
 
Das Wort der Bergpredigt ist an die gerichtet, die von selber zu ihm kommen. Es gilt denen, die sich von ihm etwas erwarten, die ihn hören wollen und danach suchen, ihr Leben an diesem Wort und an dieser Lehre auszurichten. Die Initiative geht also von denen aus, die kommen und hören wollen. Die Bergpredigt eignet sich nicht als moralische Keule und als Forderung an irgendjemand gesprochen. Wir sehen hier eine Lehre an die Jünger Jesu. Hier begegnet uns eine Jüngerschulung, an der die teilnehmen können, die sich darauf einlassen wollen. Man kann sagen, hier ist der Anfang einer Gemeinschaft um Jesu willen, der Beginn also von Kirche, die sich im Geist Jesu belehren und schulen lassen will.
 
Schon hier und daran wird sichtbar: Die, die aus einer solchen Haltung leben (wollen), werden immer in der Minderheit sein. Man kann als Jünger Jesu nicht auf die große Mehrheit hoffen und sich am mainstraem der öffentlichen Meinung orientieren wollen. Es geht um einen ganz eigenen Weg, der oft  sehr unterschieden sein kann, von dem, was „gängig“ ist.
 
Die Seligpreisungen, die wir heute im Evangelium gehört haben, sind wie ein großes Eingangstor in den Raum der Bergpredigt.
 
Entscheidend ist hier schon der Anfang. Wir hören gleich zu Beginn:
 „Selig die arm sind vor Gott,
denn ihrer ist das Himmelreich!“
Hier wird die Haltung angesprochen, aus der alles andere folgt. 
Arm sein vor Gott!
Das bedeutet, jemand zu sein, der von sich her nicht das Nötigste zum Leben hat, jemand zu sein, der vor Gott nichts vorzuweisen hat, der mit leeren Händen dasteht. Arm sein vor Gott. Wie einer sein, der ein leeres Gefäß vor sich stehen hat, angewiesen, dass ihm etwas hinein gegeben wird. Ein Armer vor Gott - das ist jemand, der ganz auf ihn geworfen ist. Gott ist sein einziger Reichtum. Er hält ihm die Hände hin, damit sie von Gott selber gefüllt werden.
 
In der sonntäglichen Eucharistiefeier erleben wir das immer wieder, wenn wir eingeladen sind, mit leeren Händen zum Altar zu treten, um Christus zu empfangen und so ganz konkret zu erfahren, wie uns von Gott das Brot des Lebens geschenkt wird – immer wieder neu. Und wie wunderbar, dass wir tatsächlich immer neu beschenkt werden. Nie müssen wir mit leeren Händen gehen, nie werden wir fortgeschickt. Das ist die Haltung des Armen: Er vertraut darauf, von Gott beschenkt zu werden. Und er erlebt, dass dieses Vertrauen nicht enttäuscht wird.
 
In den Seligpreisungen wird keine Vertröstung auf das Jenseits zugesprochen. Wir hören in der ersten ausdrücklich:
Selig, die arm sind vor Gott, denn ihrer gehört das Himmelreich.
Das Entscheidende hat damit bereits jetzt und hier begonnen. Das Geschenk, das Gott gibt, ist das der Gottesgemeinschaft. Das ergreift uns hier und jetzt – und übersteigt doch auch diese Welt. Das wird in den folgenden Seligpreisungen sichtbar, in denen es jeweils heißt: sie werden getröstet, gesättigt ... werden.
 
Aber auch in der achten wird noch einmal der Indikativ gebraucht:
"Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, 
denn ihnen gehört das Himmelreich."
Die Visionen und Verheißungen der Seligpreisungen sind umrahmt von der „Ist  - Aussage“, dass das Himmelreich bereits geschenkt ist.
 
Noch nie hat ein Mensch so zu anderen gesprochen: Bei allem Jammer, bei aller Not, bei aller Gewalt, die wir immer wieder erleben müssen – persönlich und gesellschaftlich – wir sind dennoch zur Freude geboren. Die Seligpreisungen sagen uns das in unser Leben, in diese Welt, in unsere Diesseitigkeit hinein und weisen doch auch gleichzeitig weit darüber hinaus. So sind sie die Offenbarung des Heilswillens Gottes in dieser Welt.

Amen.

Harald Fischer