Bischof Franz Kamphaus
Silvesterpredigt 2004 am 31. Dezember im Frankfurter Kaiserdom


Es gibt Fragen, mit denen wir auch am Ende des Jahres an kein Ende kommen: Warum diese schreckliche Krankheit? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt? Warum dieses schreckliche Leid? Und nicht zuletzt: Warum diese verheerende Naturkatastrophe in Südasien? Man mag geophysikalische Gründe nennen, die dazu geführt haben. Sind sie eine Erklärung für die hundertzwanzigtausend Toten, für das Sterben so vieler Kinder an Weihnachten? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Schreit das ganze Elend nicht zum Himmel? Die Natur löst die Fragen nicht, die uns bedrängen, sie gibt sie uns auf. So harmlos und harmonisch ist sie nicht, wie viele uns das heute weis machen wollen. In den Katastrophen vergeht alle Naturseligkeit. Traumstrände versinken im Chaos.
 
Noch einmal: Schreit das ganze Elend nicht zum Himmel? Schärfer noch: Schreit es nicht gegen den Himmel, gegen Gott? So ist es: Die Psalmen sind voll solcher klagenden Schreie. Jesus hat am Kreuz darin eingestimmt: „Warum mein Gott, warum …?“ Es gibt keine glatte Antwort auf diese abgründige Gottesfrage. Versuchen wir, das Licht zu aufzuspüren, das uns das Evangelium schenkt.
 
„Man gab ihm den Namen Jesus …“, so heißt es heute im Evangelium. Jesus - der Name ist Programm: Gott rettet! Aber wie? Ganz anders, als wir uns das ausdenken: Er strebt nicht hoch hinaus, er ist tief herunter gekommen - Transzendenz nach unten! Er ist dabei bis zum Äußersten gegangen, bis in die letzte Hütte, in die Futterkrippe. Er wollte die Welt von ihrem schwächsten Punkt her retten. Er hat den Erweis seiner Göttlichkeit nicht dadurch erbracht, dass er mit majestätischem Wink von oben herab alles regelte, sondern so, dass er sich in die Kalamitäten der Welt eingelassen hat. Jesus widerstand der Versuchung, die Welt mit Gewalt in Ordnung zu bringen - kein heiliger Krieger, der um der vermeintlich guten Sache willen über Leichen geht. Er hat alles dran gesetzt, dass Gott und seiner Herrschaft der erste Platz gebührt und jeder Mensch zu seinem Recht kommt. Die Welt bleibt nicht wie sie ist. Jesu ganzes Leben, seine Verkündigung und sein Handeln zielen darauf, unsere leidigen Verhältnisse von Grund auf umzugestalten auf den neuen Himmel und die neue Erde hin. Krippe und Kreuz -Jesus ist sich treu geblieben. Er litt und starb nicht, weil Leiden und Tod schön wären oder gar weil er Lust daran gehabt hätte. Er litt und starb, weil die Verhältnisse in der Welt jenseits von Eden so sind, wie sie sind. Erlöst und gerettet sind wir nicht durch die Liebe zur Macht, sondern durch die Macht der Liebe.
 
Seit Jesu Leben und seinem Sterben am Kreuz ist Gott nicht mehr aus dem Leiden herauszuhalten, er selbst ist ein Betroffener. Das Leid ist kein Zeichen seiner Abwesenheit, sondern seiner Anwesenheit. Er lässt sich in Mitleidenschaft ziehen, er leidet mit. Die heute gängige Gottesvorstellung entspricht den Träumereien von einer leidfreien Gesellschaft. Sie verträgt keine Wunden, keinen ungetrösteten Schmerz. Das ist im christlichen Glauben anders. Im Evangelium sind die Schalmeientöne einer Verlieblichung Gottes nicht zu hören. Da bleibt kein Raum, sich Gott nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zurecht zu träumen und und den Jammer und die Dunkelheiten der Welt unterhaltsam zu überspielen. Ist es denn nicht das Leben selbst, das uns die Abgründe Gottes ahnen lässt? Ein erwachsener Glaube wird sie nicht wegschminken, sondern sich ihnen stellen - und sei es mit dem Aufschrei gegen den Himmel. Den Gott, der umstandslos zu unseren Wünschen und Träumen passt, gibt es im Evangelium nicht.
 
Jesus steht dafür, dass Gott sich auf das Leiden eingelassen hat. Das Leid hat es seither mit Gott zu tun. Es ist damit an seine Grenze gekommen; es muss Gott selbst das letzte Wort lassen. Gott leidet nicht nur solidarisch mit uns, er hat auch die Kraft, das Leiden zu überwinden. Das hat er in Jesus gezeigt. Seine Auferweckung ist der Anfang vom Ende der Herrschaft des Todes. Sie ist der Aufstand gegen Leiden und Tod, den Gott selbst bewirkt hat. Viele sagen: Wenn ich das unsägliche Leid in der Welt sehe, kann ich nicht glauben, dass es einen Gott gibt. Lässt sich nicht mit größerem Recht sagen: Weil es Gott gibt, können wir uns dem unsagbaren Leid der Welt stellen im Vertrauen, dass er uns seine Hand entgegenstreckt und uns hält. Es gibt Ungeheuerlichkeiten im Leben des Einzelnen wie der Menschheit, die uns in die Verzweiflung trieben, hätten wir nicht die Hoffnung, die uns mit Jesus Christus geschenkt ist. Diese Hoffnung ermutigt uns, die Freiheit zu wagen, die in unserer Gesellschaft immer mehr in Vergessenheit gerät oder verdrängt wird: - Die Freiheit, sich die eigene Endlichkeit und Gebrechlichkeit einzugestehen und sie anzunehmen; - die Freiheit, sich dem eigenen Leid zu stellen und am Leiden anderer mitzutragen (Mitleidenschaft); - die Freiheit, die Hand zu öffnen und anderen unter die Arme zu greifen. Sind wir so frei?