20. Mai 2004 - Christi Himmelfahrt
Apg 1,1-11, Lk 24,46 - 53


Liebe Gemeinde!

Da stehen wir also und "starren in den Himmel", wie Lukas in seiner Apostelgeschichte wörtlich schreibt. Es gibt nichts zu sehen da oben in der Höhe, "eine Wolke nahm ihn weg von ihren Augen...und er wurde hinauf gehoben" - so beschreibt Lukas in der wörtlichen Übersetzung das, was wir Glaubende "Himmelfahrt" nennen.
 
Was würden wir eigentlich sehen können, wenn es bei der Himmelfahrt Jesu etwas zu sehen gäbe?
 
Wir würden sehen,
wie die Jünger, die eben noch Jesus gesehen und gehört haben, jetzt nur noch eine Wolke sehen, die Jesus von ihren Blicken trennt,
wie Jesus zugleich in dieser Wolke gleichsam "aufgeht", als würde er mit ihr eins,
wie sie sich erhebt zum Himmel,
und wie Jesus dann nicht mehr zu sehen ist.
 
Über Wolken wissen die Jünger Bescheid. Schon ihre gläubigen Vorfahren haben einschneidende, ja existentielle Erfahrungen mit Wolken gemacht und wunderschöne "Wolkengeschichten" erzählt:
 
Damals, während des Exodus, war die Wolke lebensrettend gewesen. Sie hatte sich schützend, die flüchtenden Israeliten verbergend, zwischen sie und die Verfolger gestellt. So waren Mose und sein Volk dem sicheren Tod entronnen.
 
Die nach oben starrenden Jünger erinnern sich beim Anblick der Wolke noch einer anderen Geschichte:
 
Während der Wüstenwanderung hatte JHWH-Gott zu Mose mehrfach gesagt: "Ich werde zu dir in einer dichten Wolke kommen." Und dann geschah dies wirklich, JHWH-Gott kam in der Wolke herab und redete mit Mose. Weiter heißt es im 24. Kapitel des Buches Exodus: "Dann stieg Mose auf den Berg, und die Wolke bedeckte den Berg. Die Herrlichkeit des Herrn ließ sich auf den Sinai herab, und die Wolke bedeckte den Berg sechs Tage lang. Am siebten Tag rief der Herr mitten aus der Wolke Mose herbei. Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg hinauf. Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb Mose auf dem Berg."
Die Jünger erinnern sich also:
Ihr Glaubensbruder Mose hatte sich vierzig Tage und Nächte in der unmittelbaren Gegenwart Gottes aufgehalten, war eingehüllt gewesen von seiner Wirklichkeit. Nach den vierzig Tagen kam Mose zurück zu seinem Volk - beschenkt mit der Thora, dem Lebens- und Glaubensweg, der für das Volk Segen und Heil verheißt.
 
Und dann fällt ihnen noch eine weitere Geschichte ein: Es ist die wunderbare Geschichte der begleitenden Gegenwart JHWH-Gottes auf dem 40-jährigen Wüstenzug. Das Volk trägt das Zelt in seiner Mitte mit sich, darin das Geschenk Gottes vom Sinai, die Thora. Über Tage geht über dem Zelt die Wolke mit, in der sich die Herrlichkeit Gottes verbirgt, in der Nacht, während des Schlafs der Gläubigen, steht die Herrlichkeit JHWH's als Feuersäule über dem Zelt. Der in der Wolke mitziehende, stets gegenwärtige Gott, der begleitende, führende, ermunternde, oft auch mahnende, oft auch enttäuschte Gott: Er weicht dem Volk nicht von seiner Seite, erträgt Hitze und Durst, den Unmut seiner Gläubigen, das Misstrauen, die Resignation. Ein ungeheures Bild, eine ungeheure Geschichte!
 
Und eine andere Geschichte fällt ihnen ein: Die Geschichte einer jungen Frau, einer Glaubensschwester; sie war überschattet worden von einer Wolke. Anders als damals bei Mose hatte Maria das Wort JHWH-Gottes nicht nur gehört, nein, das Gottesgeschenk, das Maria in ihrer Begegnung mit Gott erhielt, war jetzt nicht mehr nur das bloße Wort Gottes, sondern eben dieses Wort in Menschengestalt!
 
Faszinierende Wolkengeschichten, aufregende, rätselhafte, so rätselhaft und geheimnisvoll wie Gott selbst.
 
Die jüdische Glaubenstradition, der es ja verboten ist, sich ein Bild von Gott zu machen, hat dennoch in ihrer Bibel nach Bildern für ihren unfassbaren und unvorstellbaren Gott gesucht - und gewußt, weil alle unsere Menschenbilder von Gott vor Gott zerbrechen müssen, dass nur ein Bild, das in sich alle Vorläufigkeit und Zerbrechlichkeit enthält, es wagen darf, Menschenbild von Gott zu sein. Ein solches Bild ist die Wolke. Es ist ein Glaubensbild. Es wahrt das Erste Gebot, weil dieses Bild seinem Inhalt nach so zerbrechlich ist und dynamisch, so unfassbar, dass es gleich zerbricht. Es ist - wie eben die Wolke - nur kurz da, dann gleich schon wieder anders, eigentlich gar nicht wirklich zu benutzen, vor allem nicht für Theologen, die Gott meinen in Sprachbildern festzurren zu können.
 
Die Wolke ist etwas Vorläufiges; nichts Festes oder Starres; sie ist zart, veränderlich, luftig, unfassbar, durchsichtig, ein gegenwärtiges und zugleich fliehendes Etwas, nicht festzuhalten, nicht einzugrenzen. Veränderlich in Form und Farbe. Eine Wolke bringt Regen, spendet Schatten, schickt Blitz und Donner. Sie verdunkelt, macht Angst; sie hindert die brennende und austrocknende Sonne, sie kühlt.
 
Lukas, der sich an all diese Wolkengeschichten vom Exodus, vom Sinai, von Maria aus Nazaret erinnert, erzählt die Erscheinung der Wolke neu.
 
Auch Jesus wird von ihr eingehüllt; aber anders als Mose, der aus ihr wieder zurückkehrt mit dem Wort von Gott, wird er von ihr aufgenommen, mit ihr eins. Jesus, der zu Lebzeiten nie etwas anderes tat, als aus seiner Einheit mit dem Willen Gottes zu leben - der wird nun endgültig eins mit Gott. Er wird es nicht aus eigener Anstrengung. Er wird eins mit Gott, weil Gott es will.
 
Das Fest der Himmelfahrt Jesu ist deswegen zuerst ein "Gottesfest" - wir feiern Gott, weil er diesen Menschen Jesus aus Nazaret, einen von uns, endgültig und für immer ganz bei sich aufgenommen hat.
 
Das macht uns froh: In der Menschwerdung des Wortes Gottes durch Jesus aus Nazaret hat sich Gott ganz zu uns gesellt, ist ganz zu uns hinabgestiegen; in der Himmelfahrt des Jesus aus Nazaret holt er uns ganz zu sich in seine Herrlichkeit, hüllt er uns ganz ein in seiner himmlischen Wolke. Deswegen brauchen wir auch dieses Fest: Es stellt uns vor Augen, welche Zukunft auf uns wartet: Daß uns am Ende unserer Tage Gott aufnimmt und hineinbirgt in seine Herrlichkeit.
 
Der Gott Jesu entäußert sich also zweifach: Mit seiner Menschwerdung, mit Weihnachten teilt er ganz unser menschliches Glück und Elend, kommt er ganz bei uns an; mit der Himmelfahrt kommen wir ganz bei ihm an: Er öffnet er den Himmel ganz und gar und lädt uns ein zu einer unvorstellbaren Gemeinschaft mit ihm. So schließt sich auch für Jesus der Kreis: Der nie etwas anderes wollte als menschgewordener Wille Gottes sein, verschmilzt jetzt mit ihm. In der religiösen Sprache heißt das: Der Glaube Jesu, sein Vertrauen und sein Hoffen, werden in der Himmelfahrt von Gott vollendet.
 
Aber wir stehen heute noch hier unten und starren etwas unsicher, etwas ungläubig vielleicht auch, nach oben. Liturgisch gesehen tun wir das noch 10 Tage lang. So lange stehen wir da als Waisen; wir warten darauf, dass sich die Verheißung Jesu erfüllt: "Ihr werdet die Kraft des Hl. Geistes empfangen."
Immer wieder führt uns unser Glaube ein in die Haltung des Wartens und Erwartens und damit des Empfangens. Immer wieder will uns der Glaube darin einüben, das Vertrauen aufzubringen, uns einer Zukunft zu öffnen, die größer ist als das, was wir Menschen selber in der Lage sind zu vollbringen.
 
Noch schauen wir nach oben, etwas blickstarr, kommen uns vielleicht etwas zurückgelassen vor. Zugesagt aber ist uns kein geringerer als der Geist Gottes. "Er wird kommen", sagt Jesus. Er wird unsere Blickstarre lösen. Dann werden wir ein wirklich großes Fest feiern. Dann werden wir geistvoll leben in dieser Welt, die so gar nicht aussieht, als wäre Gott je in ihr heimisch geworden. Und doch: "Der Geist Gottes wird kommen", sagt Jesus. Er öffnet euch die Augen für die Gegenwart Gottes; er begabt euch mit dem Mut, geistlich zu leben in dieser Welt, die hungert nach einem Wort, das satt macht.
 
Noch schauen wir nach oben, zu erwarten den Geist, der uns zugesagt ist. Begreifen wir uns also in den kommenden zehn Tagen bewußt als eine Gemeinschaft von Wartenden, als eine erwartende Gemeinde!

Amen.

Otmar Leibold