2. Mai 2004 - 4. Sonntag der Osterzeit
Joh 10,27 – 30


Liebe Gemeinde!

Wohl jeder von uns hat seine Pläne für das eigene Leben. Da gibt es Wünsche, Vorstellungen, Ideen, was uns das Leben bieten soll, wie es auszusehen hat und was wir erwarten. Gesundheit, Glück, Zufriedenheit – diese Erwartungen kennt wohl jeder von uns. Aber wir können unsere Wünsche sicher noch sehr deutlich verfeinern: Berufsziele, Wünsche, wie sich die Kinder entwickeln sollen, wo der Urlaub hingeht, was ich morgen erleben will... Jeder könnte die Liste dieser Erwartungen für das eigene Leben beliebig verlängern.
 
Oft ist es schmerzlich, wenn solche Erwartungen sich nicht erfüllen, wenn sie zerschlagen werden und sich das Leben anders gestaltet, als wir es erhoffen.
 
Manchmal ist es geradezu eine Katastrophe, wenn etwas unverhofftes über uns hereinbricht. Es ist dann sehr verständlich, dass man sich mit allen Kräften gegen das wehrt, was man nicht will. Und doch muß man oft feststellen: Alles sträuben nützt nichts. Die eigenen Pläne und Vorstellungen sind durchkreuzt und alles läuft anders, als wir es wollten.
 
Und doch merkt man gerade dann manchmal – erst im nachhinein -, dass gerade das, was wir auf keinen Fall wollten, ungeahnt Neues mit sich gebracht hat. Manchmal entsteht gerade durch das Ungewollte eine Weite, die wir vorher nicht ahnen konnten. Es ist dann wie ein Sturm, der unser Leben an Ufer geschleudert hat, die wir aus eigener Kraft nicht erreicht hätten, auch weil wir sie gar nicht kannten.
 
In diesen nachösterlichen Tagen hören wir in den Lesungen aus der Apostelgeschichte vom Anfang der ersten christlichen Gemeinde. Nach der Katastrophe des Karfreitags hatte es eine neue Sammlungsbewegung gegeben. Sie wurde ausgelöst durch Menschen, die eine Hoffnungserfahrung am Grab gemacht haben. Sie glaubten: Das Wort, das Jesus gesprochen hat, lebt. Ja, er selber lebt. Die Botschaft Gottes ist nicht am Kreuz ermordet worden. Sie lebt in der Auferstehung Jesu Christi weiter. Um diese hoffenden Menschen hatten sich andere gesammelt. Es entstand eine kleine Gemeinschaft von Menschen, von der die anderen sagten: "Seht, wie sie einander lieben". Und: "Sie hatten alles gemeinsam" (Apg 2).
 
In diese neue Hoffnung hinein ereignete sich eine weitere Katastrophe: Die Ermordung des Stephanus und die Vertreibung der ersten Christengemeinde. Sie wurde zersprengt - nach Rom, nach Griechenland, in die ganze bekannte Welt... Man mußte eigentlich annehmen, dass jetzt endgültig das Ende dieser Botschaft erreicht war.
 
Aber genau das Gegenteil ist geschehen. Gerade durch die Vertreibung ist das aufblühende Grün der ersten Gemeinden nicht zertreten sondern vervielfältigt worden. Gerade durch die Vertreibung in die ganzen Welt ist der Same verbreitet worden, aus der die Kirche als Weltgemeinschaft entstehen konnte. Ohne dieses zunächst schreckliche Ereignis der Vertreibung wären die ersten Christen vermutlich eine kleine, gemütliche Gemeinde in Palästina geblieben, die sich selbst genügt hätte und irgendwann wieder verschwunden wäre. Keiner hätte ahnen können, dass aus diesen schmerzhaften Ereignissen eine solche Fruchtbarkeit hätte entstehen können.
 
Die Voraussetzung für dieses Wachstum war die Ermordung des Stephanus und sein Vertrauen, dass sein Tod nicht vergeblich ist. Sein Wort im Sterben "Vater, rechne ihnen diese Sünde nicht an" (Apg 6) macht deutlich, dass er sich auch im Sterben in die Hand Gottes bergen konnte.
 
Damit macht er genau das Vertrauen sichtbar, von dem im heutigen Evangelium die Rede ist. Jesus spricht hier als Guter Hirte: "Niemand kann sie meiner Hand entreißen. Mein Vater ist größer als alle" (Joh 10, 28). Jesus wirbt um das Vertrauen, aus dem er selber lebt.
 
Dieses Vertrauen besagt nicht, dass uns nichts passieren kann. Stephanus ist gesteinigt worden, Jesus hat Angst und Tod erlitten. Und beide haben sicher nicht in jedem Moment souverän über den Geschehnissen gestanden, sondern auch Angst und Zweifel erlitten und die Frage gekannt, ob ihr Leben nicht vergeblich gewesen ist und sie das Scheitern erleben müssen.
 
Die Erfüllung des Vertrauens erleben wir nicht immer in unserem Leben. Wie viele Menschen sterben in Angst und Dunkelheit hinein. Wie viele erleben das sogar so schmerzhaft, dass man es nicht einmal wagen könnte, ein Wort des Trostes zu sagen, weil es den erlebten Schmerz nicht wirklich ernst nehmen würde. Wie oft kann man nur den Weg in die Dunkelheit schweigend mitgehen, vielleicht die Hand eines leidenden Menschen halten oder auch nur schweigend mit ihm sein.
 
Und doch ist uns hier von Jesus selbst ein Wort der Hoffnung zugesprochen, das größer ist als selbst diese Angst. Vielleicht dürfen wir diese Hoffnung manchmal - schweigend - stellvertretend für den leidenden und hoffnungslosen Menschen leben. Wir dürfen uns jedenfalls als feiernde Gemeinde uns gegenseitig diese Hoffnung zusprechen und auch die Menschen in dieser Hoffnung bergen, die sie im Moment selber nicht als wahr erfahren können.
 
Manchmal werden wir durch diesen Glauben der anderen selber mit getragen und getröstet: "Niemand kann dich meiner Hand entreißen. Mein Vater ist größer als alle!"
 
Es gibt eine Hoffnung, dass unser Leben im Sinn geborgen ist, selbst wenn wir die Dunkelheit erfahren und aushalten müssen. Vertrauen in das Leben - auch wenn es dunkel ist! Weil Christus das Licht ist, das alles erhellt.


Amen.

Harald Fischer