29. Februar 2004, 1. Fastensonntag
Evangelium: Lk 4, 1–13


Liebe Schwestern und Brüder!
Liebe Gemeinde!

Das heutige Sonntagsevangelium, das das erste in der Reihe der Fastensonntagsevangelien bildet, will verstanden werden wie ein Tor, das wir zu Beginn dieser Fastenzeit durchschreiten. Es empfängt uns mit einem Thema, das die folgenden Sonntagsevangelien in unterschiedlicher Weise meditieren. Bis zur Osterverkündigung nämlich gehen wir in und mit den Sonntagsevangelien, also mit Jesus selbst, einen geistlichen Weg, der uns mit den existentiellen Erfahrungen unseres Lebens in Berührung bringt: Mit der Erfahrung der Schuld, der Sinnlosigkeit von allem, des Leids und des Todes. Dieser Passionsweg, den wir mit Jesus in der Fastenzeit gehen, konfrontiert uns mit unseren Grenzen, mit unserer Vergänglichkeit und Schuldbehaftetheit und zeigt die Versuchungen, auf diesem Weg zu scheitern – und die Hoffnung auf Hilfe und Gelingen – doch dies erst endgültig an Ostern.
 
Das heutige Evangelium enthält eine ganze Reihe interessanter und auch wichtiger Themen, die es lohnen würde, genauer zu bedenken. Diese Erzählung ist – wie übrigens alle Erzählungen der Bibel – so voll von Bedeutungen und Anspielungen, dass uns Lukas zwingt, im Rahmen dieser Predigt für die Betrachtung eines Aspektes uns zu entscheiden. Auf drei dieser Themen, die Lukas anspricht, möchte ich in drei Vorbemerkungen zumindest kurz hinweisen. Diese Vorbemerkungen tragen einen eher theologischen Charakter. Hernach schließt sich die geistliche Auslegung unseres Evangeliums an.
 
Erstens: Als Lukas sein Evangelium und die Apostelgeschichte schrieb, ging es ihm u.a. darum, seiner Gemeinde zu zeigen, daß seit der Erwählung Abrahams, seit der Berufung des Mose, seit dem Exodus und dem Bundesschluß JHWH-Gott mit dem Volk Israel einen besonderen Weg geht; dieser Weg kommt mit dem Auftreten Jesu, kommt in seiner Botschaft und seinem Wirken, und dann letztlich in seinem gewaltsamen Lebensende und seiner schließlichen Auferstehung zu seinem eigentlichen Ziel. Lukas ist der erste Theologe in der jungen Gemeinde, der die Meinung vertritt, dass mit Jesus sich die Verheißungen des ersten Bundes erfüllen, dass also in Jesus endgültig deutlich wird, was Erwählung und Bund eigentlich bedeuten. Im theologischen Konzept seiner Versuchungsgeschichte wird deutlich: Das Volk Israel hat damals auf seinem Wüstenzug die Prüfungen nicht bestanden: Es begehrte gegen Mose auf, es machte sich ein goldenes Kalb, es stellt die Erwählung durch Gott in Frage, indem es den Exodus als einen Weg in den Hungertod in der Wüste verdächtigte. Jesus aber besteht diese Prüfung in der Wüste, er widersteht den Versuchungen, mit souveränem Gestus. Darin liegt für Lukas das Besondere an Jesus: In seinem Gehorsam Gott gegenüber angesichts der Versuchung überbietet, ja überwindet Jesus den Unglauben und das Mißtrauen seines Volkes Israel in der Wüste und bringt so die Geschichte des Heils zu ihrem Ziel.

Zweitens: Man könnte in der Auslegung des Evangeliums der Frage nachgehen: Was meint Lukas eigentlich mit der Gestalt des Satan? Ist er eine Person, die neben Gott eine eigenständige Existenz führt? Und warum sollte Gott diesen Satan zulassen? Lukas schreibt sein Evangelium an Christen, die vor ihrer Bekehrung im Kontext der griechischen Götterwelt ihre Lebensdeutung und ihren Glauben fanden. Hier spielte die Überzeugung eine Rolle, daß das Böse eine dem guten Gott gleich mächtige Größe darstellt, daß der Mensch mit seinem Leben gleichsam den Schau- und Kampfplatz bietet für die Auseinandersetzung dieser Giganten: der gute Gott – der böse Satan. Lukas greift diese seinen Lesern vertraute Vorstellung auf – und deutet sie um: Jetzt kämpfen diese beiden nicht mehr indirekt gegeneinander, so daß der Mensch immer Opfer ist, sondern – direkt. Gott und Satan stehen sich in Jesus, dem Lukas hier starke christologische, also göttliche Züge verleiht, direkt gegenüber – und Gott gewinnt den Kampf und besiegt Satan. Diese Botschaft ist Lukas wichtig in der griechisch-heidnischen Welt zu verbreiten: Die neue Religion besiegt Satan ein für allemal.
 
Und ein dritter Aspekt kann nur angedeutet, aber nicht weiter entfaltet werden: Es geht um die Versuchung durch politische Macht. Das ist ein großes Thema, damals schon zu Zeiten des Lukas, bis heute. Jesus lehnt für sich die Ergreifung politischer Macht entschieden ab: "Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf seinen sehr hohen Berg; er zeigt ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest." Lukas hat in seiner Gemeinde nicht wenig Mühe, die Vorstellung abzuwehren, Jesus hätte eine politische Messiasauffassung vertreten; in der Antike ist dies ja üblich: der politische Herrscher verfügt zugleich auch über die religiöse Macht, ja er läßt sich nicht selten als Gott verehren. Die junge heidenchristliche Gemeinde, die unter dieser Vorstellung groß geworden ist, daß nämlich politische Macht identisch ist mit religiöser Macht, muß sich in diesem neuen Glauben an Jesus auseinandersetzen mit der Tatsache, daß Jesus kein politisch zu interpretierender Messias, seine Evangelium kein politisches Programm darstellt, sondern im Gegenteil politische Macht als egoistisch und menschenfeindlich entlarvt. Ein großes, sehr aktuelles Thema, das Lukas hier verarbeitet, bei dessen Andeutung es aber hier bleiben soll...
 
Jesus wird vom Satan in der Wüste dreimal versucht. Worum geht es in der Versuchung und was hat diese Erfahrung Jesu mit unserem Leben heute, und auch mit unserer Fastenzeit zu tun?
 
Für das Wort "Satan" hat Lukas in seinem Text das griechische Wort "diabolos" gewählt. Es ist uns im Wort "diabolisch" geläufig. "Diabolos" bedeutet in der wörtlichen Übersetzung: Der Durcheinanderwerfer – der Verwirrer. Lukas spielt mit dieser Bezeichnung des Satans auf die Schöpfungserzählung der Ersten Bibel an, in der es heißt, daß Gott und in welcher Weise er aus der Chaoswelt, aus dem Durcheinander, eine Ordnung gemacht hat; die chaotische Situation des Weltanfangs – überall Dunkel, überall Wasser, nirgendwo Leben – wird von Gott Tag für Tag so geordnet, "aufgeräumt" und entwirrt, dass am letzten Tag dann endlich der Mensch in dieser Ordnung, die jetzt Erde heißt, seinen Platz und damit seinen Sinn finden kann.
 
Jeder von uns verfügt über die Macht, Sinn und damit etwas Sinnvolles zu zerstören, Verwirrung zu stiften. Jeder von uns verfügt über die Fähigkeit, etwas Gutes und Schönes kaputt zu machen, Wahrheit zu entstellen; z.B. einen Sachverhalt so darzustellen, daß die Darstellung nicht zur Klärung führt, sondern zur Verdunklung; jeder von uns kann z.B. so sprechen und handeln, daß Chaos entsteht, daß am Ende nur Verwirrung übrig bleibt; daß die Übersicht verlorengeht. Das heutige Evangelium könnte uns ermutigen: In einer Klarheit zu leben, die einen Sinn in diesem ja tatsächlich oft chaotisch und widersprüchlich scheinenden Weltlauf erkennen läßt; es könnte uns ermutigen zu glauben, daß sich in unserem eigenen Leben, das uns auch oft genug erscheint, als würde es zufällig, ohne Sinn und planlos verlaufen, dennoch ein Sinn verbirgt, den ich mir gar nicht anstrengend erarbeiten muß, sondern der da ist, seit Anfang an, als Gott alles ordnete und sinnvoll zusammenfügte...
 
Die Fastenzeit will – angesichts dieser Verführungsgeschichte, die Lukas erzählt – zu einem Glauben ermutigen: So chaotisch dir dein eigenes Leben vielleicht erscheint, so verwirrend dein Lebensweg auch verläuft, so unklar dir vielleicht bisweilen Gott selbst ist – gib der Erfahrung des Chaos und der Verwirrung nicht das letzte Wort! Erinnere dich: Hat Gott nicht damals, im Anfang, aller Verwirrung ein Ende gemacht und dem Leben, auch deinem Leben, einen Sinn eingestiftet?
 
Angesichts der Erfahrung von Vergänglichkeit, von Unzulänglichkeit und Schuld, von Leiden und Tod, Erfahrungen also, die im echten Sinn "diabolisch", weil sinnzerstörend sein können, ist dies ein großer Glaube, ein großes Vertrauen! Jesus bringt dieses Vertrauen in den unbedingten Sinn der Welt angesichts seiner Wüstenerfahrung auf. Die Wüste ist als lebensfeindlicher Ort von jeher das Symbol einer bestimmten Weltwahrnehmung: das Symbol für Chaos und Sinnleere, ein Bild dafür, daß der Mensch in dieser Welt nicht willkommen ist und darin keinen lebenswerten und lebensfähigen Platz findet, keinen Ort, an dem er gedeihen und sein Leben fruchtbar und sinnvoll werden kann. Sie ist damit auch ein Symbol für unsere Selbstwahrnehmung: Für die Erfahrung, daß in uns selbst Chaos und erdrückende Sinnfragen stecken, die unklar sind und uns verwirren und durcheinanderbringen. Daß in uns die Verführung lauert, dem Nihilismus das Wort zu reden.
 
Jesus begegnet diesem Chaos, seinem Chaos, indem er sich besinnt auf den Ursprung, auf den Anfang, darauf, woraus er lebt: "Der Mensch lebt nicht nur von Brot." Was nährt mich und macht mich satt, also wirklich zufrieden und still, angesichts der Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens? Das Brot dieses Lebens, dieser Welt? Jesus sagt nein. Nur ein Wort von Gott selbst kann die Erfahrung der Wüste, des Durcheinanders und des Chaos ordnen und heilen. Das erste Wort, das Gott in der Bibel überhaupt spricht, ist: "Es werde Licht!" Im Aussprechen dieses Wortes wird es hell. Dieses "Es werde Licht!" ist das wirkliche Brot, von dem Jesus lebt, von dem auch wir leben könnten. Die Versuchung ist, den erdrückenden Erfahrungen dieses Lebens von Sinnleere, von Durcheinander und Unordnung, von Un-Sinn, Glauben zu schenken. Die Fastenzeit will uns ermutigen: Glauben wir wie Jesus an einen Gott, der mächtiger ist als die vermeintliche Sinnleere; vertrauen wir wie Jesus einem Gott, dem meine Schuld, mein Versagen, mein gesamtes fragmentarisches und unvollkommenes Leben, ja mein Leiden und mein Tod nicht gleichgültig läßt und unberührt läßt. Vertrauen wir dem Anfang – unserem Ursprung. Denn auch als jeder einzelne von uns hier in die Welt kam, sprach Gott: "Es werde Licht." Das ist die Erfahrung Jesu in seiner Versuchung. Deswegen kann er später auch sagen: "Ihr seid das Licht der Welt."

Amen.

Otmar Leibold