25.02.2004, Aschermittwoch 2004
Ps 51 (GL 190,1)


Das Psalmwort, das wir eben gehört haben, schlägt einen für unsere liturgischen Hörgewohnheiten womöglich direkten und harten Ton an: Es ist das Bittgebet eines Menschen, der sich seiner Schuld ganz klar bewußt ist. Er bekennt:
 
"Ich erkenne meine bösen Taten" – "Ich habe gesündigt."
 
Vielleicht irritiert dieses öffentliche Schuldeingeständnis nicht nur unsere liturgischen Ohren, sondern mehr noch unser Hören und Empfinden überhaupt.
 
Denn möglicher weise – bevor wir jemals zu einem Schuldbekenntnis gelangen – stellen wir uns die eher theoretischen Fragen: Schuld – was ist das eigentlich? Ist Schuld immer so eindeutig auszumachen und zuzuordnen, ist das Leben und Miteinanderleben nicht so komplex, dass in der Regel viele schuld sind, oder alle irgendwie Schuld haben? Das scheint ja heute sehr beliebt zu sein, persönliche Schuld klein zu reden, oder Mitschuldige zu suchen, am besten die unpersönlichen Umstände verantwortlich zu machen, die keiner wirklich zu vertreten hat, oder noch einfacher, zurückzutreten von seinen Ämtern, quasi als Übernahme von Verantwortung, freilich ohne sich damit schon entschuldigt zu haben!
 
Für die Bibel ist klar: Es gibt Schuld. Sie ist benennbar, identifizierbar. Sie gehört zu einem Subjekt, zu einem identifizierbaren Menschen, der einen Namen trägt, der an einem identifizierbaren Ort lebt, zu einer identifizierbaren Zeit.
 
"Ich erkenne meine bösen Taten" – "Ich habe gesündigt."
 
Schuld zu sein ist eine schwierige, oft unangenehme Sache. Wenn ich die Schuld trage, fühle ich mich allein, häufig bin ich es auch; Schuld isoliert. Als Schuldiger bin ich leicht geächtet, der Versager, der Schwache. Der mit dem blinden Fleck. Der alles auszubaden hat. Der im Regen steht, während sich alle anderen in der Sonne aufhalten. Deswegen fällt die Übernahme von Schuld auch so schwer. Sie macht mich angreifbar, sie zeigt mich schwach – und unvollkommen, behaftet mit einem Makel und Mangel.
 
Wundert es noch, wenn der Umgang mit der persönlichen Schuld so schwer ist?
 
Der Aschermittwoch will uns Gläubigen eine Hilfe anbieten, einen Weg eröffnen, mit der eigenen Schuld umzugehen; er will zu einem Weg ermutigen, den wir in den nächsten 6 Wochen einüben können.
 
Die erste Hilfe, mit der Schuld umzugehen:
 
Wenn ich mich nachher mit dem Aschekreuz bezeichnen lasse, zeigt das kleine Kleinigkeit: Ich bekenne mich offen als einen Menschen, der mit einer konkreten Schuld behaftet ist. Ich bekenne mich als einen Menschen, der sich realistisch einschätzt und von sich weiß: Ich bin schuldig – ich kann schuldig werden. Auch wenn ich es noch so sehr anders wünsche: Zu den Begrenzungen meines Lebens gehört auch dies: Dass ich weder mir selbst, noch den Menschen um mich gerecht werde, dass ich mir und den andern immer etwas schuldig bleibe. Das ist eine Einsicht, die weder einer pessimistischen Grundeinstellung dem Leben gegenüber entspringt, noch das eigene Leben düster machen will – sondern frei. Frei deswegen, weil mich diese Einsicht, die ein Bekenntnis ist, erlöst vom Zwang der Rechtfertigung, auch vom Zwang der Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit, auch vom Zwang des schönen und guten Scheins.
 
Eine weitere Hilfe, die der Aschermittwoch mit seinem Aschekreuz zeichenhaft ermöglicht:
 
Ich bekenne mich in der Gemeinschaft mit anderen zu meiner Unzulänglichkeit. Das ist eine große Sache: Alle sind wir eingeladen, nach vorne zu treten und die Erfahrung zu machen: Ich bin als Schuldiger gar nicht alleine. Ich brauche mich und meine Schuld nicht verstecken. Ich brauche den anderen hier nichts vorzuspielen – was für eine Erleichterung und Entkrampfung im Umgang miteinander! Ich bin ansprechbar auf meine Unzulänglichkeit; du kannst mich ansprechen auf das, was du an mir wahrnimmst, mit dem heutigen Tag verstecke ich mich nicht mehr; ich bin ansprechbar auf mein Versagen; ich stehe mit dem Kreuz auf meiner Stirn dafür ein.
 
"Wir sind alle kleine Sünderlein" heißt ein Faschingslied – was da eher entschuldigend daher gesagt wird, ist eigentlich eine erlösende Feststellung: So verschieden wir sind, wir Schüler und Lehrer an der Engelsburg – wir sind alle fehlbar, unser Tun und Wollen, das gute Gelingen – es bleibt alles Fragment. Eigentlich könnte dies im Umgang mit einander in unserer Schule zu einer großen Freiheit führen: unsere Barmherzigkeit hervorlocken, zu Güte und Großzügigkeit mit dem anderen anspornen...
 
Nachher wird das Aschekreuz ausgeteilt; jeder von uns hier könnte dies tun. Die Spendung des Aschekreuzzeichens ist ja kein Sakrament, sondern jeder zeigt und bekennt damit etwas von sich, was in der Regel schwer fällt zu zeigen. Deswegen ist der Aschermittwoch ein mutiger Tag; er fordert unsere ganze realistische Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung; er hat einen aufdeckenden Charakter, aber keinen bloßstellenden, weil die persönliche Schuldbehaftetheit letztlich eine Erfahrung ist, die Gemeinschaft ermöglicht, echte menschliche Gemeinschaft.
 
Die nächsten 6 Wochen gelten in den beiden großen Kirchen als Bußzeit. Unter Buße verstehen wir in der Regel eine Strafe: Ich habe etwas falsch gemacht, eine Regel verletzt, ein Gesetz übertreten, dafür muß ich büßen, d.h. ich werde dafür bestraft.
 
Unser christlicher Glaube versteht unter Buße etwas völlig anderes. Die Tatsache des Schuldigwerdens zieht nicht die Strafe nach sich – Gott will nicht den Tod des Sünders, heißt es oft in der Bibel. Was heißt dann Buße? Buße bedeutet Umkehr. Einen anderen Weg einschlagen. Eine neue Haltung einüben. Mich von Gott ansehen lassen, in diesem Augenblick, in dieser Begegnung meine Fragmenthaftigkeit erkennen, vielleicht meine Boshaftigkeit, meinen Egoismus – und zu erfahren: Dieser Gott gibt mir eine neue Chance, er traut mir zu, dass ich mich lösen kann von Mustern, die für mich und für andere eine Lebensminderung bedeuten, eine Lebensverhinderung – Buße: vielleicht darauf verzichten, einem bestimmten Menschen stets zu mißtrauen. Oder: Die Haltung einzuüben, in jedem Menschen zuerst das Gute zu sehen, also gütig zu werden.
 
Manchmal tut es gut, der eigenen Schuld nicht nur im kollektiven Bekenntnis – also im Bußakt zu Beginn des Gottesdienstes – oder im kollektiven Tun – wie heute am Aschermittwoch – gewahr zu werden. Manchmal braucht man ein Gegenüber, das hilft, sich zu erinnern, das hilft, eine konkrete Verfehlung, unter der ich leide und die ich aufrichtig bereue, durchzusprechen. Selbstverständlich, dass dies zuerst der von mir Geschädigte selbst ist.
 
Manchmal ist – selbst wenn unter Menschen alles in einer guten Weise besprochen und vergeben ist – immer noch ein Rest empfunden, der lastet; ist eine Sehnsucht da, ein erlösendes Wort zu hören, das mich frei spricht von mir selbst und meinen Grenzen, die bleiben. Ein Wort, das mehr Kraft hat als je ein menschliches Wort, das mehr Mut gibt zu Veränderung als je ein menschliches geben kann. Im Sakrament der Buße ist die Erfahrung aufbewahrt und verbürgt, dass Gott zu mir sagt: "So wie du bist, bist du mein Mensch. Mit all deiner Begrenzung. Mit deiner Schuld und all deiner Gebrochenheit. Du darfst sein. Du sollst leben, weiterleben, ohne zu verzweifeln. Hier und dort kannst du einen neuen Weg versuchen. Ich begleite dich. Ich lasse dich in deinem Versuch, umzukehren, nicht allein." Auch das zeigt das Aschekreuz: Einen Gott, der uns unter der Last unserer Kreuze nicht umkommen lässt, sondern diese Last mit trägt. Ein Angebot Gottes, diese Last mit zu tragen, ist das Sakrament der Buße, die persönliche Beichte. Auch dies ist einer der Wege, der in den nächsten 6 Wochen ausdrücklich wieder offen steht...

Amen.

Otmar Leibold