25. 01. 2004, 3. Sonntag im Jahreskreis
Evangelium: Lk 1,1-4; 4,14-21 


Liebe Gemeinde!

Kennen Sie das?
 
Ganz häufig leben wir im Gestern – oder im Morgen.
 
Im Gestern leben, das bedeutet: Ich bin noch bei dem Gespräch von vorhin, das mir nachgeht. Oder ich trauere dem vergangenen Urlaub nach, der leider vorbei ist. Oder ich hänge an der Zeit, als die Kinder noch klein waren, oder die Kirchen noch voll, oder die Zeiten insgesamt noch besser waren...
 
Im Morgen leben, das bedeutet: Ich bin mit dem innerlich beschäftigt, was mich heute abend erwarten wird, oder mich treibt die Frage um, was ich morgen kochen soll, oder was werden wird, wenn die Kinder erst mal groß sind, die Rente eingereicht ist...
 
Ganz oft erlebe ich mich ausgestreckt in die Vergangenheit – oder in die Zukunft, aber ich bin dann nicht in der Gegenwart. Dabei leben wir doch nur entweder jetzt
 
oder nicht wirklich.
 
Jetzt leben, das würde bedeuten: die Bank spüren, auf der ich jetzt sitze, den Atem wahrnehmen, der in mich einströmt und aus mir herausfließt, die Unruhe wahrnehmen, sogar die Bauchschmerzen, die ich vielleicht habe, bewußt erleben – und nicht wegdrängen, was vielleicht jetzt gerade ist, mir aber nicht paßt und ich nicht erleben will.
 
Ein Schriftsteller hat einmal folgende Sätze aufgeschrieben: "Unsere wahre Heimat ist der gegenwärtige Augenblick. Im gegenwärtigen Augenblick zu leben ist ein Wunder. Auf dem Wasser zu schreiten ist es nicht. Das Wunder besteht vielmehr darin, im gegenwärtigen Augenblick über die grüne Erde zu gehen, den Frieden und die Schönheit zu kosten, die genau jetzt zur Verfügung stehen. Frieden ist überall um uns herum... Haben wir erst einmal gelernt, mit diesem Frieden in Berührung zu kommen, werden wir geheilt und gewandelt. ... Wir müssen nur Mittel und Wege finden, unseren Körper und Geist zurück in den gegenwärtigen Augenblick zu bringen, damit wir das berühren können, was uns erfrischt und heilt und wunderbar ist."
 
Unsere wahre Heimat ist der gegenwärtige Augenblick...
 
Ich glaube, dass Jesus etwas ganz ähnliches gemeint hat, wenn er sagt: Heute hat sich das Schriftwort erfüllt, das ihr eben gehört habt.
 
Er kommt zu seiner "Primizpredigt" nach Nazaret. Der bekannte Sohn der Stadt ist zum Synagogengottesdienst in seiner Heimat und er hält die Predigt. Das ist im Judentum und war in seiner Zeit völlig normal, dass einer, dem man das zutraut, um die Auslegung der Schrift gebeten wird. Er hält eine Predigt – und offensichtlich eine gute, wie uns an der Reaktion der Menschen zunächst sichtbar wird. Diesen Teil des Evangeliums werden wir nächste Woche in Fortsetzung hören.
 
Er hält eine gute Predigt, aber vielleicht haben die Menschen damals – wie sicher auch oft heute – nicht tief genug verstanden, was er wirklich meinte.
 
Er zitiert ein Wort aus dem Propheten Jesaja: "Der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesandt, den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen Freiheit, einen Neuanfang für alle." Wunderbare Worte, wie man sie in einer Predigt durchaus erwarten kann. Aber dann wird Jesus konkret: Heute hat sich das Schriftwort erfüllt.
 
Ja, hier wird zunächst eine Aussage über Jesus gemacht – ein Glaubenssatz: Der Geist des Herrn ruht auf ihm, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, das Gnadenjahr des Herrn auszurufen..." Das galt für ihn. Diese Botschaft haben die Menschen damals gehört und wir dürfen uns von diesen Worten auch heute anrühren lassen.
 
Und wir müssen verstehen, das das Heute, von dem Jesus spricht, nicht nur das HEUTE vor gut 2000 Jahren war. Es ist auch nicht nur das HEUTE noch etwa 600 Jahre früher aus der Zeit des Jesaja, wo es das erste mal gesprochen und aufgeschrieben wurde. Es ist das HEUTE eines jeden Augenblicks! Es ist das HEUTE dieses Tages, ja, dieses Momentes.
 
Es gilt auch für uns. Uns wird heute, jetzt diese Gegenwart des Geistes zugesprochen. Aber noch mehr: Wir haben – in Jesu Geist – die selbe Vollmacht, wie die, von der er für sich gesprochen hat. Der Geist Gottes ist ja nicht zu vierteln oder vielleicht bei uns nur in einer homöopathischen Verdünnung zu finden. Überall wo Gottes Geist ist, ist er ganz. In Taufe und Firmung ist er auch uns zugesprochen. Wir dürfen aus diesem Geist Jesu leben und handeln. Wir dürfen diesen Geist empfangen und weitergeben.
 
Heute gilt es, das zu erkennen. Nicht weniger ist uns geschenkt als die Vollmacht des Geistes, den Jesus beseelt hat.
 
Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt. Erlösung in dieser Welt auch dadurch, dass wir Gottes Geist weitergeben.

Amen.

Harald Fischer