24. 12. 2003, Christmette 2003


Liebe Gemeinde!

In diesen Tagen habe ich einen Brief erhalten, in dem mir ein Mensch im Rückblick auf eine längere Entwicklung über sich selber folgende Gedanken schreibt:
"Ich versuche nun auch bewusst, das Leben so anzunehmen, wie es nun einmal ist. So viele Jahre habe ich mich nutzlos damit herumgeschlagen, Nein zu sagen zur Welt und zum Leben, weil mich die dunklen Seiten fast krank gemacht haben. Und das war im Tiefsten auch ein Nein zu Gott: `So nicht, diese Welt will ich nicht`. Und manchmal hätte ich gern meine Eintrittskarte in diese Welt zurückgegeben. ... Ich bin sehr froh und dankbar, jetzt einen neuen Weg begonnen zu haben. Ich lerne, mit dem Dunklen zu leben. Und ich finde dadurch mehr zum Leben"
 
Für mich ist das ein sehr ergreifender Weihnachtsbrief,
   - einmal weil ich spüre, dass da wirklich etwas Wichtiges für diesen Menschen geschehen ist
   - aber auch, weil hier in Bildern das geschildert wird, was wir Weihnachten feiern.
 
Der Prophet Jesaja hat es angekündigt:
"Das Volk, das im Dunkeln wohnt, schaut ein helles Licht" (Jes 9,1).
 Das Volk, das im Dunkeln wohnt...
 
Das Dunkle kennen wir. Wie viel davon könnten wir aus dem vergangenen Jahr aufzählen:
   - der unselige Krieg im Irak, der soviel Leid und Zerstörung gebracht hat. Die Gewalt in   
      Afghanistan, in Tschetschenien und an so vielen anderen Orten der Welt.
   - der Sozialabbau und Arbeitslosigkeit in unserem Land
   - die zunehmende Lebensangst und Hoffnungslosigkeit so vieler Menschen
   - viele Dunkelheiten in den einzelnen Schicksalen.
 
Und dabei erleben wir oft die Angst: Wir sind allein und hilflos und alles kämpfen führt oft nicht zum erwünschten Ziel.
 
Das Weihnachtsevangelium sagt uns: Gott kommt in diese Welt! Er wird Teil der Geschichte, unserer Geschichte!
 
Jesus wird in einer Zeit geboren, als Rom die Kontrolle über die Welt perfektionierte, um sie sich verfügbar zu machen. Im Zentrum der Macht herrschte ein unglaublich materieller Reichtum und gleichzeitig eine maßlose Gier nach mehr. In den Provinzen dagegen war Armut und Hoffnungslosigkeit. So haben die Menschen damals ihr Dunkel erlebt.
 
In diese Welt, die gespalten ist in Reich und Arm, in Macht und Ohnmacht kommt Gott selbst. Er macht durch seinen Sohn seine Vorstellung vom Menschen sichtbar. Er macht sichtbar, wie die Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde aussehen. Er macht sie nicht nur sichtbar. Er geht sie selber.
 
Wie Gott in seinem Sohn in diese Welt kommt, ohne Machtansprüche, ohne materielle Forderungen, nur als ein schwaches, neugeborenes Kind, um ein Mensch zu werden, steht im scharfen Gegensatz zu dem, wie Menschen über Menschen herrschen. Damit kehrt er alle Vorstellungen, die Menschen sich bis dahin über Gott gemacht haben, um. Damit kehrt er auch unsere eigenen Vorstellungen von Gott um, radikal um.
 
Heilig ist nicht mehr ein ferner, unnahbarer Gott, heilig ist das neugeborene Kind in der Krippe.
 
Und mit diesem Kind ist jedes Kind geheiligt, das geboren wird. Gleich ob es im keimfreien Kreissaal einer Klinik oder in der von Ungeziefer verseuchten Hütte von Bulyansungwe in Uganda zur Welt kommt. Mit dem Kind in der Krippe ist jedes Kind geheiligt. Gleich, ob es Perspektive und Zukunft hat, weil es in Europa geboren wird, oder ob ihm Lebensmöglichkeiten beschnitten sind, weil es in Bethlehem heute wie damals gefährlich war, zu leben.
 
Damit sind auch die, die heute Nacht Weihnachten feiern, aufgerufen, diese Heiligkeit der Kinder, das Leben selber zu schützen.
 
In dieser Nacht wird sichtbar: Heilig ist jeder Mensch, ob er als Hirte zu den Außenseitern und Verachteten gehört oder ob er als Weiser zu den Angesehenen gerechnet wird. Heilig ist der Mensch, der in Krankheit und Not das Ende seines Lebens ersehnt und der, der in Gesundheit und Kraft noch alle Möglichkeiten vor sich hat.
 
Wenn Gott selbst als kleines Kind in diese Welt kommt, dann bedeutet dies auch, dass ihm jeder Einzelne von uns heilig ist. Unabhängig davon, wie nahe wir Gott sind. Sicher sind heute auch viele unter uns, für die diese Botschaft von Weihnachten mit Zweifeln und vielen Fragen versehen ist. Ob wir Glaubende oder Zweifelnde sind: Heute feiern wir, dass wir ihm heilig sind. Und weil wir Gott heilig sind, sieht er in jedem von uns immer jenes Kind, das noch alle Möglichkeiten in sich trägt. Das heißt: Er sieht in jedem von uns noch immer die Möglichkeit, Mensch zu werden. Unser Leben ist nach vorne hin offen, immer mit der Möglichkeit, Gott entgegen zu gehen.
 
Im Kind in der Krippe, in Jesus von Nazareth, zu Bethlehem geboren, wird der Traum Gottes von einem neuen Menschen wahr. In ihm ist Gott Mensch geworden – und doch ganz er selbst geblieben. Hier wird die Ebenbildlichkeit Gottes Wirklichkeit, von der die Bibel bei der Erschaffung des Menschen spricht
 
In der Geschichte der Menschheit ist ein Mensch erschienen, in dem uns Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit nahe kam. Er hat außergewöhnlich gelebt, er hat außergewöhnliche Taten vollbracht und Worte gesprochen, die in unzähligen Menschen bis heute immer wieder Hoffnung geweckt haben. Menschen haben sich von diesem Kind in der Krippe, von dem Mann aus Nazareth ansprechen und erfüllen lassen und begegnen uns als überzeugende Beispiele gelebter Menschlichkeit.
 
Wenn Gott Mensch wird, bedeutet das auch: Mensch werden ist etwas Göttliches und weckt – vielleicht, hoffentlich – auch in uns die Sehnsucht, Mensch, wirklich Mensch zu werden, nach dem Bild und Gleichnis dessen, der uns aus der Krippe heraus anschaut.

Amen.

Harald Fischer