26. 10. 2003, 30. Sonntag im Jahreskreis
Mk 10, 46 – 52


Liebe Schwestern und Brüder!
Liebe Gemeinde!

Heute ist Weltmissionssonntag. Mission – dieses Wort hat für viele Ohren in unserem Land einen etwas schwierigen Beigeschmack. Mission – das klingt etwas überheblich. So, als hätte man etwas, was man den anderen zeigen, sogar überstülpen könnte. Dabei sind wir doch selber Suchende und Zweifelnde. Und gerade in Glaubensfragen soll doch jeder nach seiner Facon selig werden.
 
Mission – bestenfalls in dem Sinn, dass die reichen Länder den ärmeren bei ihrer Entwicklung helfen und wir von dem Geld abgeben, das wir haben. Und da sind die Katholiken in Deutschland, die Christen insgesamt in Deutschland ja wirklich vorbildlich. Gott sei Dank zu wieviel Hilfe viele bereit sind.
 
Aber über den eigenen Glauben zu reden ist für viele Menschen schwierig, sogar peinlich. Manchmal bekommt man den Eindruck, hier an das letzte große Tabuthema unserer Gesellschaft zu stoßen. Nachdem es Mode geworden ist, sich in allen möglichen Shows und Talksendungen in einer buchstäblich scham – losen Weise zu enthüllen und sich der seltsamsten Perversitäten zu rühmen, ist es nur noch die persönliche Religiosität, die als Tabuthema bestehen bleibt.
 
Und doch gibt es offensichtlich auch einen Durst, über die Fragen nach Sinn und Religiosität zu sprechen. Andrea Fischer, die ehemalige Gesundheitsministerin der Grünen, hat in der letzten Woche in einem Zeitungsinterview ihren Glauben bekannt. "Ich habe einen ganz langen Umweg gemacht und habe nur ziemlich stolpernd zum Glauben zurückgefunden" sagt sie über sich selbst. Sie habe den Eindruck, dass gerade in den politischen Führungsetagen eine große Bereitschaft besteht, über Fragen des Glaubens und der eigenen Sinnsuche zu sprechen, sobald nur jemand bereit ist, diese Themen anzuschneiden.
 
Vielleicht kann man sagen, dass wir am Ende einer Epoche stehen, in der der reine Fortschrittsglaube geherrscht hat. Viele Menschen merken einfach, dass es eben doch kein grenzenloses Wachstum gibt und das man den Wohlstand nicht unbeschränkt weiter ausbauen kann. Die knapper werden Ressourcen, der wacklige Boden unserer Wirtschaft führt dazu, dass viele Menschen Angst bekommen. Pessimismus ist wohl das vorherrschende Gefühl bei vielen Menschen unserer Zeit. Pessimismus und Zukunftsangst. Damit verbunden ist die Frage, was denn wirklich trägt im Leben. Diese Frage wäre nicht beantwortet, wenn wir wieder bei einem oder sogar zwei Prozent Wachstum ankommen würden. Ich glaube, dass mit dieser Frage ein geistlicher Hunger verbunden ist.
 
Im heutigen Evangelium begegnet uns Bartimäus. Ein Mensch seiner Zeit, der sich in seinen begrenzten und ärmlichen Verhältnissen eingerichtet hat – wie so viele andere Menschen zu allen Zeiten. Warum fängt er gerade in der Szene, die uns im heutigen Evangelium geschildert wird, an zu schreien und sich gegen sein Schicksal aufzulehnen. Ich glaube, hier ist sein geistlicher Hunger zum Ausdruck gekommen. Ein Hunger nach mehr, als nur einem Euro oder einem Scheckel, der Währung in Israel. Der Hunger nach mehr als nur dem, was den Leib satt macht.
 
Bartimäus hat seinen Hunger, seinen geistlichen Hunger in dem Moment nach außen geschrien, als jemand da war, von dem er sich Nahrung erhoffte.
 
Vielleicht erleben wir heute oft eine ganz ähnliche Situation. Viele Menschen schreien – auf ihre Weise, vielleicht manchmal fast unverständlich. Und es gehört Mut dazu, manche dieser Schreie als Ausdruck eines geistlichen Hungers zu verstehen und den Menschen zu helfen, ihn selber so zu entdecken.
 
In Erfurt sind 70 % der Menschen ungetauft. Über 50 % der Verstorbenen dort werden nicht mehr beerdigt - nicht nur nicht kirchlich, sondern überhaupt nicht. Sie werden entsorgt, anonym, an unbekannten Stellen ohne Beteiligung von irgendwelchen Angehörigen und Freunden. Ein Ausdruck einer inneren Verarmung, meine ich. Das bleibt auf Dauer nicht ohne Folgen für das eigene Lebensgefühl.
 
Viele Menschen, nicht nur in Erfurt, auch in den alten Bundesländern, auch bei uns hier in Kassel, wissen nicht mehr selbstverständlich, dass wir Weihnachten etwas anderes begehen, als ein schönes Familienfest, bei dem wir den Weihnachtsmann erwarten. Viele wissen nicht mehr, dass Ostern etwas anderes ist, als das Fest des Osterhasens und der Ostereier. Viele wissen nichts mehr mit dem Karfreitag anzufangen, geschweige denn mit Pfingsten. Viele können nicht verstehen, dass Christen an eine Auferstehung glauben, dass wir in Gott auf ein "Du" vertrauen, das uns in Liebe zugewandt ist. Viele wissen nicht, dass wir in Jesus Christus das lebendige Bild Gottes glauben.
 
Ich sage das nicht von einer moralischen Warte mit einer inneren Empörung: Das darf doch nicht sein! Nein, dass ist einfach eine sachliche Analyse unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit.
 
Und hier sind wir als christliche Gemeinde durchaus angefragt. Denn viele Menschen möchten gern wissen, von uns wissen: Was feiert ihr denn in euren Gottesdiensten. Was macht euren Glauben aus? Welche Hoffnung habt ihr? Es gibt diesen Schrei des Bartimäus auch in unserer Zeit, auch an uns gerichtet. Und die Menschen möchten eine Antwort auf diese Frage. Vielmehr als nur eine neue Kritik – berechtigt oder unberechtigt - am Papst, vielmehr als nur ein neuer Skandal – berechtigt oder unberechtigt – an irgendeinem Priester ist die Frage von Belang: Wovon lebt ihr denn eigentlich?
 
Und wenn wir uns dieser Frage stellen, vielleicht auch Suchend und Tastend, aber doch mit der Zuversicht, dass es grundsätzlich eine Antwort gibt, die uns im Evangelium zugesprochen ist, dann stellen wir uns dem Hunger – auch dem Hunger in unserem Land. Mission ist heute längst nicht mehr eine Einbahnstraße von Europa nach Afrika oder Asien. Mission, das bedeutet, dass wir uns den Fragen unserer Zeitgenossen in unserem Land stellen. Nicht penetrant und aufdringlich, aber bereit, über das zu sprechen, was wir glauben oder suchen.
 
Es bedarf den Mut, den Schrei vieler Menschen als den Schrei des Bartimäus nach Hilfe und nach Glauben zu verstehen und zu interpretieren: "Jesus, Sohn Davids erbarme dich meiner!"
 
Vielleicht können wir dann den Mut aufbringen und in der Sprache, die für die jeweilige Situation angemessen ist, antworten: "Hab Mut! Steh auf. Er ruft dich!"

Amen.

Harald Fischer