Karfreitag, 18.04.2003


"Da kam Jesus heraus mit der Dornenkrone.
 
Pilatus sagte zu ihnen:
 
Seht – der Mensch."
 
Nein, in diesem Augenblick hatte er "keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten" (Jes 53). Kurze Zeit später findet er bei Ruchlosen sein Grab, wird mit Verbrechern begraben.
 
In der Szene vor Pilatus ist im Johannesevangelium der Höhepunkt der Passionserzählung erreicht.
 
Das Bild ist eindrücklich: Ein Mensch mit Dornenkranz und Purpurmantel.
 
Und er flucht nicht.
 
In der grausamen Logik der Brutalität heißt es: Da – euer König!
 
Aber Johannes lässt Pilatus sagen: Da – der Mensch!
 
Hier leuchtet das innerste Ziel des Evangeliums auf: Der Mensch!
 
Es geht nicht um einen König. Das sind die Denkstrukturen der Macht, die Denkstrukturen eines Pilatus, der die Konkurrenz als Herrscher fürchtet.
 
Vor Pilatus und vor allem Volk steht nicht nur der König. Vor ihm steht der königliche Mensch. Ecce homo! Der Mensch steht da: mantelverhüllt, purpurfarben.
 
Johannes beginnt sein Evangelium: "Im Anfang war das Wort...".
 
Er schreibt also eine neue Schöpfungsgeschichte.
 
Jetzt, am Karfreitag, kommt diese Schöpfung, die Neuschöpfung zu ihrem Voll – Ende.
 
Wie damals am sechsten Schöpfungstag, am Tag vor dem Sabbat, steht da wieder der Mensch. Und er ist Gott aus dem Gesicht geschnitten. Bild und Gleichnis Gottes"
 
"Das ist der Mensch!" Darin vollenden sich für Johannes alle Titel, die Menschen für Jesus gefunden haben: Sohn, Herr, Messias, König, Rabbi...!
 
Seit dem Schöpfungsmorgen, in den hinein Gott den Menschen am Tag vor dem Sabbat geschaffen hat, wird der Mensch gesucht. Er ist verlorengegangen im Sündenfall im Brudermord des Kain am Abel.
 
Jetzt ist er für den Evangelisten wiedergefunden. Im Gesicht Jesu entdeckt er ihn neu – im Opfer, in Abel.
 
Der Mensch begegnet uns nicht im Gesicht der Täter, nicht im Gesicht Kains, nicht im Gesicht des Pilatus – auch wenn es noch so schön hergerichtet sein mag, kosmetisch aufgestilt.
 
Der Mensch begegnet uns im Opfer, im Leidenden, in dem, der Unrecht erleidet. Der Mensch begegnet uns im Kranken, im Unansehnlichen. Darin bringt er sich, darin bringt Gott sich mit seiner Ebenbildlichkeit zum Ausdruck.
 
Johannes sieht in das Gesicht des Opfers, nicht in das Gesicht dessen, der sich die Hände in Unschuld waschen will.
 
Und so stellt er uns Gott vor: Als den, der sich im Leidenden zeigt.
 
Ecce homo! – Seht, der Mensch!

Harald Fischer