22. Dezember 2002, 4. Adventssonntag
Lk 1, 26 - 38
"Geboren von der Jungfrau Maria"


Liebe Gemeinde!

In dem Evangelium, das wir eben gehört haben, begegnet uns eine der schönsten und auch bekanntesten Geschichten der Christenheit. Durch die Musik und vor allem auch durch die Malerei ist die Verkündigungsszene sogar weit über den christlichen Raum allgemein bekannt. Jeder von uns hat vermutlich mehrere Bilder vor Augen, auf denen die Begegnung zwischen dem Engel und dem Mädchen aus Nazareth dargestellt ist.
 
Mit dieser Geschichte verbinden aber auch nicht wenige Menschen ihre ganz persönlichen Glaubenszweifel: Wie soll das möglich sein, eine "Jungfrauengeburt?" Sie empfinden diese Geschichte, sie empfinden diese Glaubensaussage als Zumutung, ihren gesunden Menschenverstand beim "betreten der Glaubenswelt" abgeben zu sollen.
 
Eine solche Vorstellung wäre ein tragisches Mißverständnis. In vielen Geschichten und Erzählungen der Bibel werden uns Glaubensbilder vorgestellt, nicht nur eine rein historische Geschichtsschreibung. Man muß beides voneinander unterscheiden können, sonst kommt es zu Verstehensschwierigkeiten, die eine sinnvolle Verständigung unmöglich machen.
 
Es ist uns eigentlich vertraut, dass wir uns in Bildern ausdrücken. Wenn ich Ihnen jetzt z.B. sagen wollte, dass ich gestern einen sehr vergnüglichen Abend gehabt habe und es äußerst lustig war, könnte ich auch sagen: "Ich habe mich gestern abend richtig totgelacht." Keiner von Ihnen würde dann auf die Idee kommen und sagen: "Du lügst ja. Du kannst dich gar nicht tot gelacht haben. Sonst stündest du ja gar nicht hier. Du wärest ja tot!". Jeder würde sofort verstehen, dass ich in einem Bild eine Wahrheit ausdrücken möchte. Und es wäre auch sofort klar, dass mit diesem Bild wirklich eine Wahrheit gemeint ist. Es wäre eben nicht "nur" ein Bild, sondern Wirklichkeit, die bildhaft ausgedrückt ist.
 
In einer solchen Weise wird in unserem Evangelium in einem Bild eine Wahrheit ausgesprochen. Es geht im Evangelium nicht nur um eine rein historische, auch nicht nur um eine biologische Aussage, Das wäre ein völlig verkürztes und verfälschendes Verständnis dessen, was Lukas uns sagen will. Er macht eine Glaubensaussage.
 
Der verstorbene Bischof von Aachen hat diese Glaubensaussage einmal in schöner Weise so zusammengefaßt: "Er kommt zu uns, nicht aus uns!"
 
Das Wort Gottes, die Botschaft Jesu, Christus selber ist nicht das Ergebnis dieser Welt. Wir können ihn nicht schaffen. Er ist nicht aus unserer Welt heraus verstehbar sondern er wird uns geschenkt. Er wird uns von Gott geschenkt. Ganz und gar. Wieviel mehr macht der Evangelist hier sichtbar, als nur eine eindimensionale historische, biologische Aussage.
 
Und in diesem Evangelium wird uns zudem der Glaubensweg eines Menschen sichtbar gemacht. Die Kirche nennt Maria "Urbild des Glaubens". Sie will damit sagen: Alles, was wir von Maria sagen, sagen wir von jedem glaubenden Menschen. Maria lädt uns ein, den Weg des Glaubens zu gehen, den sie selber gegangen ist. Es geht nicht nur um dieses eine jüdische Mädchen. Es geht um uns. Es geht um unseren Glauben. So ist Maria auch gleichzeitig "Urbild der Kirche".
 
An Maria ergeht die Botschaft: "Du bist voll der Gnade!"
 
"Du bist voll der Gnade!"
 
Das ist ein Wort an sie – aber auch an uns, an Sie an mich, an jeden Menschen. Wir dürfen uns angesprochen wissen: mit unserem Namen, mit unserer Lebenswirklichkeit, mit unserer Person. "Du bist voll der Gnade!".
 
In diesem Wort begegnet uns die Botschaft der Bibel. Es ist die Botschaft des Kindes, das Maria zur Welt bringt, das es zu den Menschen in ihr Leben tragen wird: Zu den Einsamen und Zweifelnden, zu den Ängstlichen und Kranken. Immer wieder heißt es: "Du bist voll der Gnade. Gott ist mit dir!"
 
Um eine solche Wahrheit zu verstehen, braucht es einen Weg. Wir finden diesen Weg bei Maria. Wenn wir hinschauen sehen wir: Ihre erste Reaktion ist das Erschrecken.
 
Wie sollte man auch anders reagieren, wenn man sich das wirklich zu Herzen gehen läßt und es anfängt zu verstehen, dass Gottes große überwältigende Gnade in meinem Leben eine Rolle spielt. Maria ist ein junges Mädchen. Sie hat nichts, worauf sie zurückblicken könnte, dass es verstehbar, verdienstvoll machen würde, dass Gott sich ihr so zuwendet. Es ist reinstes Geschenk. Er kommt zu ihr!.
 
In ihr Erschrecken hinein hört sie das Wort: "Fürchte dich nicht!". Sie braucht Zeit, mit dem Zugesagten, mit dem Erfahrenen umzugehen. Es beginnt ein Prozeß der Auseinandersetzung, des Nachfragens , des Bedenkens. Im Evangelium werden solche Prozesse immer wie in einem Zeitraffer dargestellt. In unserem Alltag nehmen sie oft lange Lebensphasen in Anspruch. Und wir haben diese Zeit für unsere Glaubenswege, für die Lebensprozesse. Die Zustimmung, die Maria am Ende unserer Geschichte zum Ausdruck bringt, ist nicht ein für allemal gegeben. Sie ist nicht Ende sondern Beginn eines neuen Weges.
 
Wie bei Maria soll das Wort Gottes, seine Gnade auch in uns wachsen und reifen. Am Anfang steht die Zusage, die Verkündigung des Engels: "Du bist voll der Gnade!"
 
Liebe Gemeinde!
 
In der Tat begegnen wir heute dieser Wirklichkeit. Uns wird jetzt dieses Wort zugesprochen: durch den Boten Gottes, den Evangelisten, dessen Wort wir hier hören. Dieses Wort will in uns heranwachsen. Es will von uns angenommen, gelebt und durch uns geboren werden. Wenn wir, vielleicht heute, vielleicht in dieser Stunde des Gottesdienstes zu unserem "JA" kommen sollten, so ist das immer noch kein endgültiges Ja. In vielen Abschnitten, letztlich jeden Tag wieder neu, muß dieses Ja von neuem errungen und gelebt werden.
 
Das Ziel besteht darin, wie Maria zu lernen, aus dem Vertrauen zu leben: Ja, ich glaube daran, dass das Handeln Gottes an mir zu Leben führt und darum kann und will ich mich ihm überlassen. Und so kann Gottes Wirklichkeit in mir heranwachsen und sogar durch mich in dieser Welt zu Leben kommen.

Amen.

Harald Fischer