17. November 2002
Das "Jüngste Gericht"
Mt  25, 14 - 30


Liebe Gemeinde!

Am Ende des Kirchenjahres begegnen uns in den Evangelien viele Texte und Gleichnisse, die sich mit den "letzten Dingen" beschäftigen. Vor allem der Gedanke des Jüngsten oder Letzten Gerichtes zeigt sich immer wieder und zwar als eine Bewertung des Lebens. Viele Menschen fragen sich dabei voller Angst: "Kann ich mit meinem armseligen, oft kleinen Leben vor einer solchen Bewertung bestehen?"
 
Einen solchen Gerichtsgedanken über das eigene Leben gibt es in vielen Religionen – auch schon hunderte Jahre vor der Geburt Jesu Christi. Dabei zeigen sich ganz verschiedene Vorstellungen. So stellten sich Menschen z.B. eine Brücke vor, die ins Jenseits führt und von der die Sünder herabfallen. Oder eine andere Idee spricht von einer Seelenwaage, auf der die guten und die bösen Taten gewogen werden. Haben die bösen das Übergewicht, folgt die ewige Strafe auf dem Fuß. Unzählige Menschen fürchteten sich vor dem Gericht, das ihnen ihre Religion in Aussicht stellte.
 
Im Volk Israel war das durchaus anders. Israel hat in seiner Geschichte viele Bedrängnisse erlebt. Es war von Großmächten besetzt worden, es hat Verschleppung, Ausbeutung und Sklaverei erlebt. Israels Sicht auf das Gericht war deshalb nicht von Angst bestimmt sondern von der Hoffnung: Gott wird seinem geliebten Volk Recht verschaffen und die Unterdrücker bestrafe. Das Gericht wurde als Hoffnung für die Guten und Getreuen verstanden.
 
Bei dem Propheten Daniel gibt es eine Vision vom Endgericht über die Bösen, die auch bei den frühen Christen nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat. Dort heißt es z.B.
 
"Ich schaute: da wurden Throne aufgestellt, und ein Hochbetagter setzte sich nieder. Sein Gewand war weiß wie Schnee, und das Haar seines Hauptes rein wie Wolle. Sein Thron war lodernde Flamme und die Räder daran brennendes Feuer. Ein Feuerstrom ergoss sich und ging von ihm aus. Tausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht setzte sich nieder, und die Bücher wurden aufgetan" (7,9-10).
 
Seit dieser Vision von Daniel war es üblich auch bei den Christen den geheimnisvollen Gott, den niemand abbilden sollte, als hochbetagten Mann darzustellen.
 
Der Prophet Daniel stellte sich vor: Das Gericht ergeht nicht nur über die Völker der Unterdrücker und ihre Herrscher. Auch die bereits Toten werden auferstehen, damit über alle Recht gesprochen werden kann und die Opfer nicht immer Opfer und die Sieger nicht immer Sieger bleiben. Im Gericht Gottes geht es also um Gerechtigkeit für die, die Unrecht erlitten haben.
 
Auch die ersten Christen warteten voller Sehnsucht auf das Ende – wie die Israeliten im Alten Bund. Sie sahen das Ende als Zeit der Erlösung an, nicht als Zeit der Angst. Sie warteten auf das Ende voller Hoffnung, denn Christus selber würde ja da wiederkommen und sie würden ihn selbst erleben.
 
Sie stellten sich vor: Dann werden die Bösen und die Guten geschieden, z.B. wie Böcke und Schafe voneinander getrennt (vgl. Mt 25,31 – 46). Das unterscheidende Merkmal zwischen beiden Gruppen würde dann die Haltung der Nächstenliebe sein, nämlich ob die Menschen durch ihr Leben die Liebe Gottes zu allen Menschen sichtbar gemacht haben – oder eben auch nicht. Und sie stellten sich vor: auf die Lieblosen wartet das ewige Feuer, die Hölle, in der Heulen und Zähneknirschen ist und sie die Vergeltung für ihre Untaten erleben würden.
 
Solche Texte haben den Menschen in späteren Zeiten zunehmend Angst gemacht. Sie lebten nicht mehr in der unmittelbaren Naherwartung auf die Wiederkunft Christi sondern haben sich durch den Gerichtsgedanken selber bedroht gefühlt statt Gerechtigkeit für die Unterdrückten zu erwarten. Es stand nicht mehr die frohe Erwartung auf die erlösende Wiederkunft Christi im Mittelpunkt sondern die Angst: "Kann ich im Gericht bestehen?".
 
Ein Zeugnis dieser Angst ist die große Dichtung des "dies irae", des "Tages der Rache", die von großem Komponisten wie Haydn und Mozart großartig vertont wurden und bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestandteil jeder Totenmesse war. Darin wird der "Jüngste Tag" eben als "Tag der Rache" gesehen. Es heißt dort u.a.:
Welch ein Graus wird sein und Zagen 
Wenn der Richter kommt mit Fragen 
Streng zu prüfen alle Klagen.
Sitzt der Richter dann zu richten
Wird sich das Verborgne lichten.
Nichts kann vor der Strafe flüchten.

Solche Texte haben die Angst verschärft. Die Menschen haben diese Worte als Information aufgefasst, wie es am "Ende der Welt" sein wird, als exakte Information über die Zukunft.
 
Heute haben wir wieder neu und besser verstehen gelernt, dass hier keine Reportage über die Zukunft gegeben ist. Die Worte vom Gericht wollen erinnern und aufrütteln. "Sie sagen den Menschen: Das Ende kommt! Die Vollendung kommt!" Sie wollen auf das Heute des Lebens aufmerksam machen und daran erinnern: "Mein Leben, dein Leben: Es hat eine Tragweite, die über diesen Augenblick hinausreicht. Es hat Bedeutung, was du tust oder eben auch, was du unterlässt. Das, was wir tun und lassen ist wichtig – auch vor Gott. Wir müssen unser Leben verantworten. Und es ist sinnvoll, sich das immer wieder bewußt zu machen und auch angesichts des eigenen Lebens eine Bilanz zu ziehen um zu überprüfen, ob mein Leben noch verantwortbar von mir gestaltet und gelebt ist."
 
Herbert Vorgrimler, Theologe unserer Zeit, hat das einmal sehr schön in folgenden Worten zusammengefasst:
"Die Rede vom Jüngsten Gericht sagt also: Am Ende aller Tage wird Gott über die unzähligen Generationen von Menschen sein großes Amen sprechen. Die Sünden der Menschheit werden alle an den Tag kommen und dem ewigen, geheimnisvollen Gott vor Augen stehen. Er aber hat sich selber den Menschen erschlossen. Er hat sich in seinem innersten Denken und Wollen erkennen lassen und es Menschen mitgeteilt. Darin hat er gesagt, er verabscheue die Sünde, er hasse sie. Aber die Sünder verabscheut er nicht, vielmehr liebt er sie. Darum verurteilt Gott niemand und Jesus, den Gott zum Richter bestimmt hat, verurteilt ebenso niemand.
 
Gewiß, Gott kann das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen. Er wird das Böse, die Untaten und die Unterlassungen, verdammen. Jedes Menschenleben produziert Schuld und Sünde, die Menschheit im ganzen erst recht. Gott wird Abscheu haben vor diesem Müll. Unsere christliche Hoffnung aber sagt: Gott wird keinen einzigen Schuldigen verdammen.
 
Gott kann heilen und verwandeln. Gott kann Menschen, denen qualvolles Leid zugefügt wurde, so verwandeln, dass sie den Tätern verzeihen können. Gott kann die Täter so verwandeln, dass sie ihre Opfer um Vergebung bitten. Gott kann das Verwundete heilen, das Zerbrochene wieder ganz machen, das nicht Gelungene zur Vollendung führen, alles Kranke wieder gesund machen. Christlich glaubende Menschen, die in Hoffnung und Vertrauen an die unbegrenzten Möglichkeiten Gottes denken, werden nicht Angst haben vor dem Jüngsten Gericht, sondern voller Zuversicht dem heilenden und vergebenden Gott entgegengehen. So kann man es verstehen, dass Martin Luther von dem "lieben Jüngsten Tag" gesprochen hat. An diesem Tag wird Gott sein Gesicht zeigen, das Angesicht des erbarmungsvollen Jesus von Nazaret. Gläubigen Juden und gläubigen Christen und allen Menschen ist die große Verheißung des Propheten Jesaja zugesprochen:
 
"Gott selber wird bei ihnen sein. Und er wird alle Tränen abwischen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, nicht Trauer, nicht Klage noch Schmerz, denn das Frühere ist vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu" (Jes 25,8; Offb 21,3 bis 5)."

Amen.

Harald Fischer