15. September 2002, 24. Sonntag im Jahreskreis
Mt 18, 21 - 35


Liebe Gemeinde!

Im Evangelium heute wird uns eine seltsame Geschichte erzählt. Da wird auf der einen Seite grenzenlose Vergebung eingefordert. Zur Bekräftigung wird eine großartige Geschichte erzählt. Aber schon in dieser Geschichte wird beim zweiten Anlass, wo Vergebung angebracht wäre, gerade diese abgelehnt und der Schuldige den Folterknechten übergeben.
 
So ist der erste Eindruck: Eine Geschichte, die sich selbst widerspricht und Angst und Druck erzeugt. Was soll eine solche Erzählung im Mund Jesu?
 
Es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
 
In der Tat: das zentrale Thema dieses Evangeliums ist Vergebung: die geschenkte und die, die weitergegeben werden soll. Vergebung, Barmherzigkeit – das sind Themen, die so im Zentrum der Botschaft Jesu stehen, dass er selber der Meinung ist: Wer das nicht lebt, hat das Wesentliche von Gott und seiner Wirklichkeit noch nicht erkannt.
 
Jesus stellt sich mit seiner Forderung zur Vergebungsbereitschaft durchaus in die Tradition seines Volkes Israel. Nach einer jüdischen Auffassung seiner Zeit vergibt Gott dem Menschen die gleiche Sünde zwei- bis dreimal. So kann man als frommer Mensch folgern: Der Mensch soll ähnlich handeln.
 
Petrus ist jedenfalls der Meinung ein großherziges Angebot zu machen, wenn er die Bereitschaft zu erkennen gibt, siebenmal Vergebung zu schenken. Er hat von Jesus gelernt, Vergebung an die Stelle der Vergeltung zu setzen. Jetzt fragt er nach der Grenze dieser Vergebungsbereitschaft. Er ist Realist.
 
Jesus aber übersteigt selbst dieses großzügige Angebot grenzenlos. Vergebung rechnet nicht. Vergebung schenkt.
 
Diese Herausforderung führt ja durchaus an die Grenzen des menschlich lebbaren. Jesus erzählt ein Gleichnis, um zu verdeutlichen, was er meint.
 
In diesem Gleichnis führt er eine völlig utopische Situation an: 10.000 Talente, das ist die Summe, die der eine Schuldner seinem Herrn zurückzuzahlen hätte. Das ist unermeßlich viel. Ganz Galiläa und Peräa, die Nachbarprovinz, hatten z.Zt. Jesu im Jahr etwa 200 Talente Steueraufkommen. Um 10.000 Talente zu verdienen, müsste ein durchschnittlicher Arbeiter ungefähr 40.000 Jahre arbeiten. Das ist natürlich völlig unerreichbar. Und diese große Summe wird dem Schuldner einfach geschenkt. Ein Beispiel grandioser Großzügigkeit durch den Herrn.
 
Jesus will damit sagen: So handelt Gott an uns. Nicht, dass wir alle so unermeßliche Schuld auf uns geladen hätten. Nein, aber so unermeßlich groß ist der Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott und Mensch. Und wir Menschen wären durch nichts in der Lage, diesen Abstand jemals zu verändern oder einzuebnen.
 
Aber der Abstand bestimmt nicht das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott. Vergebung heißt hier: Gott holt uns auf Augenhöhe. Mit all unseren Begrenztheiten, mit unserer Wirklichkeit, auch mit unserer Schuld: Gott holt uns auf Augenhöhe.
 
Im Ps 8 heißt es: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott! Du hast ihn mit Herrlichkeit und Macht gekrönt!"
 
Dem Menschen ist eine unendliche Würde geschenkt. Inmitten seiner Begrenztheit und Endlichkeit hat Gott ihn geadelt, ihn unendlich erhöht. Der Mensch wird auf Augenhöhe mit Gott gestellt. Das ist die Botschaft der jüdisch – christlichen Offenbarung; das ist die Botschaft der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.
 
Und diese Wirklichkeit verändert alles. Sie verändert den Blick auf den Menschen, weil der Mensch jetzt von dem liebenden Blick Gottes her wahrgenommen werden kann – auch mit all seiner Begrenztheit.
 
Im Gleichnis erzählt Jesus in einem zweiten Schritt die fürchterliche Konsequenz, wenn ein Mensch diese Wirklichkeit nicht versteht und nicht annehmen kann. Ein solcher Mensch bleibt in dem alten Selbstverständnis verhaftet.
 
Der Beschenkte im Gleichnis hat das Geschenk, das er erhalten hat, nicht verstanden. Er hat diese neue Wirklichkeit nicht verstanden. Für ihn bleibt alles beim Alten. Er lebt weiterhin als Knecht und sieht weiterhin die Knechtsebene als die bestimmende Wirklichkeit dieser Welt. Für ihn ist die Welt weiterhin eingeteilt in Schuldner und Schuldige, in Besser und Schlechter. Er hat die neue Wirklichkeit, die der Herr ihm angeboten hat, nicht verstanden, auch nicht für sich selbst. Deshalb bleibt er auf der Schuldnerebene.
 
Und er hat die neue Wirklichkeit auch für den nicht Anderen nicht verstanden. Deshalb kann er sie nicht weitergeben, weil er es auch für sich selber nicht erlebt hat.
 
Liebe Gemeinde! Vergebung, Barmherzigkeit, Würde kommt einem jedem Menschen zu – natürlich auch einem jedem von uns hier.
 
Uns ist göttliche Würde geschenkt.
 
Wer das verstanden hat lebt es – von ganzem Herzen . Er lebt es: als Geschenk für sich selber und auch dem Anderen gegenüber.
 
Hier wird der Königsweg des Evangeliums sichtbar, auf den Jesus uns ruft.

Amen.

Harald Fischer