Christi Himmelfahrt, 09.05.2002
Liebe Gemeinde!
Eine kleine Anekdote erzählt, daß in den 70 er Jahren ein Präsident der damaligen Sowjetunion einen Staatsbesuch in Deutschland plante. In der unmittelbaren Vorbereitung auf diesen Besuch wurde sichtbar, daß in die Zeit des Aufenthaltes ein Feiertag in Deutschland sein würde, nämlich der Himmelfahrtstag. Der Präsident fragte einen Berater, was an diesem Tag in Deutschland sei. Der erkundigte sich und sagte dann: "Das ist der Tag, an dem der deutschen Raumfahrt gedacht wird".
Ob diese Geschichte stimmt oder nicht, weiß ich nicht. Aber vermutlich würde man heute viele verschiedene Antworten auch in Deutschland selber hören, wenn man eine Umfrage unter beliebigen Passanten auf deutschen Straßen machen würde, was der Himmelfahrtstag eigentlich für ein Feiertag sei. Es gehört mittlerweile durchaus nicht mehr zum allgemeinen religiösen Wissensgut, diesen Tag richtig einordnen zu können.
Was feiern die Christen an Himmelfahrt? Ostern! Nichts anders als das. Insgesamt feiern wir dieses Fest der Feste 50 Tage lang. Immer wieder. Und in diesen 50 Tagen liegen verschiedene "pädagogische Feste". Die Tage dazwischen bezeichnen Zeiträume, die wir Menschen brauchen, um etwas zu verstehen.
Gottes Wirklichkeit ist zeitlos. Da gibt es kein Gestern und kein Morgen. Aber wir Menschen brauchen Zeit, um das zu verstehen, um zu verstehen, was wirklich ist.
Das historische Ausgangsdatum für das Ostergeschehen ist der Karfreitag. Das Geschehen dieses Tages kann jeder verstehen. Die Erfahrung von Tod und Schmerz ist eine allgemeine Erfahrung. Vielleicht auch noch die Wirklichkeit des Karsamstags: das stille Verstummen und die Trauer, den Schmerz.
Aber natürlich ereignet sich in diesem Moment schon, schon am Karfreitag das rettende Handeln Gottes an Jesus Christus. Auch wenn die Menschen es da noch nicht erkannt und erlebt haben. Es braucht eine Zeit, um mit dem Schock des Karfreitags umzugehen. Es braucht eine Zeit, um zu verdauen, dass die eigenen Erwartungen so schmerzlich enttäuscht sind und nicht erfüllt werden. Es braucht eine Zeit, bis die Freunde Jesu sich zusammenfinden und bereit sind, Neues zu erleben, bis sie wieder offen sind für eine neue Erfahrung, für eine Glaubenserfahrung, die sie weiterführt.
Diese Zeit ist in den drei Tagen symbolisiert, die zwischen dem Karfreitag und dem Ostermorgen liegen. Auch wenn Ostern sich schon früher, schon im Tod ereignet hat. Als die Frauen zum Grab gehen, machen sie einen Friedhofsgang – wie sie glauben. Erst später merken sie, dass sie sich in ihrer Trauer getäuscht haben.
Aber bei aller Freude über die Ostererfahrungen: diese Freude ist angefochten und anfanghaft. Die Jünger verbergen sich immer wieder voller Angst. Sie glauben, die Erzählungen der Frauen seien Geschwätz. Sie sind voller Zweifel. Und es gibt diese merkwürdige Spannung zwischen den Begegnungen mit dem Auferstanden und der Erfahrung, daß er sich immer wieder entzieht.
Es ist die Zeit, in der die Jünger lernen müssen: Er ist bei uns – aber diese Gegenwart ist nicht einfach die Fortsetzung der vorösterlichen Gemeinschaft, die sie z.B. am See Genesareth mit ihm erlebt haben.
In den 40 Tagen, die zwischen Ostern und Himmelfahrt liegen, wird ein Lernprozess deutlich. Die Zahl 40 begegnet uns in der biblischen Tradition häufig: z.B. war Noah 40 Tage in der Arche, bevor er wieder festen Boden unter die Füße bekam. Mose lebte 40 Jahre in der Wüste, bevor er bereit war, Gott selber im Brennenden Dornbusch zu erfahren. Das Volk Israel wanderte 40 Jahre durch die Wüste, bevor es in das gelobte Land gehen konnte. Elia wanderte 40 Tage durch die Wüste auf dem Weg zum Gottesberg Horeb. Jesus fastete 40 Tage in der Wüste, bevor er sein öffentliches Wirken begann.
Die Zahl 40 bezeichnet einen Zeitraum, in dem etwas abgeschlossen ist und zur Vollendung gekommen ist. Die Jünger haben 40 Tage gebraucht, um zu verstehen, dass die Gegenwart Jesu nach seiner Auferstehung eine andere war, als die vor seinem Tod. Gestern sagte mir jemand in einem Gespräch über die Bedeutung des Himmelfahrtsfestes: "Dann ist das das Fest des Loslassens!". Ja, ich glaube, mit diesem Wort kann man etwas wesentliches von diesem Tag zum Ausdruck bringen. Himmelfahrt ist keine Aussage über eine biologische oder physische Wirklichkeit.
Maria von Magdala hat ihre Lernerfahrung bereits am Ostermorgen in der Begegnung mit dem Auferstandenen im Garten gemacht. Der Auferstandene sagte zu ihr: "Halte mich nicht fest!". Wieder mal war es eine Frau, die etwas vom Wesen des Glaubens schneller verstanden hatte, als die Jünger. Die Jünger haben diese Wirklichkeit jetzt verstanden – dafür stehen die 40 Tage nach Ostern: Jesus bleibt bei ihnen, aber auf eine andere Weise.
Und sie haben verstanden, daß sie Verantwortung tragen für die Botschaft Jesu Christi. In dem Wort der Gottesboten wird das deutlich: "Ihr Männer von Galiläa was steht ihr da und starrt zum Himmel..." (Apg. 1,11). Sie werden gesendet, die Botschaft von der Auferstehung in diese Welt hineinzutragen. Sie tragen Verantwortung dafür, daß die Botschaft von Ostern lebendig gehalten wird. In voller Weise verstehen sie das erst an Pfingsten. Da wird sichtbar, daß sie ihre Sendung verstehen und annehmen.
Wie die Jünger sind wir auf einem Weg, einem Glaubensweg. Wir können nicht alles auf einmal verstehen. Wir brauchen die Zeit – und wir haben die Zeit. Und immer wieder können wir wohl auch die Erfahrung machen: Das, was wir einmal verstanden haben und uns klar schien, kann zu einem anderen Zeitpunkt wieder fraglich werden und muß neu als Glaubenswahrheit errungen werden.
Wenn wir in der Liturgie die verschiedenen Stationen des Glaubensweges feiern, kann uns das helfen, uns von außen immer wieder mit den Glaubenserfahrungen der ersten Zeugen in Verbindung zu bringen und unseren eigenen Glaubensweg in den Blick zu nehmen.
Harald Fischer