Gründonnerstag, 28. 03. 2002
Ex 12; 1 Kor 11


Liebe Gemeinde!

Wenn wir heute abend der Einladung Jesu in den Abendmahlssaal folgten und dabei versuchten, wirklich Platz zu nehmen an seinem Tisch, ganz und ungeteilt da zu sein, dann könnten wir eine Ahnung davon bekommen, wer und wie Jesus wirklich ist und wer er für uns sein will. Wir müssten dafür die Bereitschaft und Offenheit mitbringen, seinen besonderen Abschied von uns gewahr zu werden; ich glaube, eigentlich erwartet Jesus von uns heute abend gar nichts anderes als ein offenes Herz und – leere, offene Hände.
 
Jesus feiert Pascha – was bedeutet das eigentlich?
 
Das Paschafest ist neben dem großen Versöhnungstag, dem Yom Kippur, das bedeutendste religiöse Fest des damaligen wie heutigen Judentums. Es erinnert, wie wir eben gehört haben, die Geschehnisse um die Befreiung aus Ägypten, als JHWH den Israeliten durch Mose gebietet, am Abend des Exodus das Blut eines reinen Lammes an die äußeren Balken ihrer Häuser zu streichen; damit würden sie verschont werden von der Strafe Gottes, die ganz Ägypten in dieser Nacht ereilen würde. Und tatsächlich kam es so. Das Zeichen des Blutes verschonte die Israeliten, ja mehr noch, es bildete die Voraussetzung für die Befreiung noch in der gleichen Nacht; denn die Ägypter waren sosehr ihrem Entsetzen und ihrem Schmerz ausgeliefert, dass sie darüber die Israeliten ziehen ließen.
 
Was ist das für eine Geschichte?! JHWH rettet sein Volk, er bewahrt es vor dem Unheil und der drohenden Vernichtung: "Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen, und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen, wenn ich in Ägypten dreinschlage."
 
Das hebräische Wort für das deutsche vorübergehen ist "pascha".
 
Sosehr engagiert sich JHWH für dieses kleine, unterjochte Volk, dass er Ägypten, dem Unterdrücker und Ausbeuter, in den Arm fällt. Die hebräische Bibel verwendet für Ägypten durchgehend das Wort: "Mizrajim" – das heißt wörtlich übersetzt: "Die Zusammenschnürer, die Einenger". Diese wörtliche Übersetzung macht vielleicht verständlicher, in welcher Weise die Ägypter die Moseschar drangsaliert hatten: Sie mußten arbeiten und wieder arbeiten, nie für sich selbst; waren ständig im Druck und unter Zwang, fremden Ansprüchen gerecht zu werden; eine zusammengeschnürte, völlig eingeengte Existenz – kurz: Ein eigenes, freies, selbstbestimmtes Leben zu führen war in Ägypten, unter dem Pharao, ein bloßer Traum.
 
JHWH selbst beendet die Zeit dieses Lebens unter Sachzwängen und fremden Geboten. Die erstgeborenen Kinder der Ägypter werden vom Vernichter, der in der wörtlichen Übersetzung "Verderber" heißt, erschlagen. Ein hartes, ein grausames Bild, das zweierlei sagen kann:
 
Zum einen will es vielleicht den leidenschaftlichen Eifer JHWH’s zum Ausdruck bringen für die Kleinen in dieser Welt, für die Vergessenen, für die niemand kämpft, um die sich niemand schert, die über keine eigene Stimme verfügen, und wenn, dann wird sie ständig überhört. Diese Parteilichkeit JHWH’s für die Opfer von Machtmissbrauch und Gewalt, von Willkürherrschaft, von ungebremstem wirtschaftlichen Fortschritt, der den Menschen lediglich noch als Ware und Objekt sieht, diese Parteilichkeit ist entschieden und eindeutig. JHWH hat sich entschieden, auf welcher Seite und zu wem er in dieser Welt steht. Bereits in seiner ersten Begegnung mit Mose, noch bevor er seine Namensidentität "JHWH" preisgibt, spricht er als erstes folgenden Satz: Ich habe das Elend meines Volkes...gesehen; ich habe ihre laute Klage gehört. Ich kenne ihr Leid. Gemeint ist: JHWH sieht als erstes immer das Elend des Menschen, und er hört immer als erstes dessen Klage! Wenn wir diese Selbstbeschreibung JHWH’s in Ex 3 genau hören und lesen, dann fällt auf, dass JHWH diese leidenden, trauernden und klagenden Menschen in Ägypten als mein Volk bezeichnet und dies, obwohl er den Bund mit diesem Volk noch lange nicht geschlossen hat! Lässt sich nicht daraus schließen, dass jeder Schwache, Ausgemergelte, Ausgenutzte und Mißbrauchte sein Volk bildet, das JHWH-Gott liebt aus ganz uneigennützigen Gründen? Und weil das so ist, muss dann nicht die Geschichte für die Kleinen und Unbeachteten so ausgehen, wie sie schließlich ausgeht: Mit starker Hand führt er sein Volk aus dem Land der Einschnürung und Enge, hinaus ins Weite?
 
Das ist die eine Bedeutung dieser Nacht, die Jesus mit seinen Jüngern beim Mahl erinnert.
 
Das Bild der Ermordung der Kinder Ägyptens durch Gott will vielleicht besagen: Nach Gottes Willen haben Unterdrücker und Ausbeuter keine Zukunft! Ihr einzig nach Profit und Gewinn trachtendes Handeln, das auf Kosten der Schwachen geht, läuft ins Leere! Die Tötung der Kinder durch den Vernichter/Verderber könnte dann meinen: JHWH ist der große Spielverderber, der deutlich macht: Da ist niemand, der den Profit erben kann, der auf ungerechte, unsoziale und damit unmenschliche Weise erwirtschaftet wurde; in diesem drastischen Bild wird allen Pharaonen dieser Welt die ganze Sinnlosigkeit ihrer Lebenseinstellung vor Augen gestellt. Dass deren Kinder sterben müssen, ihre Zukunft nicht lebendige Fülle, sondern der Tod ist, das ist das härteste Bild der Bibel für die entschiedene Weigerung JHWH’s: So habt ihr keine Zukunft!
 
Nichts anderes als diese Erinnerung liegt beim letzten Mahl greifbar "in der Luft": Diese frommen Juden begehen nicht irgendein leeres religiöses Ritual; nein, Jesus feiert mit seinen Jüngern an diesem Paschaabend JHWH, der sich ein für alle Mal auf die Seite der Armen und Kleinen gestellt hat. Aber aus der bloßen Erinnerung wird an diesem Abend unversehens mehr:
 
Jesus nimmt das ungesäuerte Brot und bricht es und teilt es aus. Und deutet dieses Brot als meinen Leib. Das ist neu und von den Jüngern bislang ungehört. Was heißt das? Ich denke, Jesus will sagen: "Damals, auf dem Weg in die Freiheit, war dieses ungesäuerte Brot die einzige Wegzehrung; zunächst hatten es unsere Väter selbst zubereitet; später dann, in der Wüste, schenkte es ihnen JHWH täglich neu, vierzig Jahre hindurch. Dieses Manna JHWH’s half unseren Vorfahren zum Leben und gab ihnen Kraft auf ihrem schwierigen Weg in die Freiheit. Und zugleich hielt diese tägliche einfache Speise die Sehnsucht in ihnen wach nach einer Nahrung, die die Kinder Israels wirklich und dauerhaft zu sättigen vermochte.
 
Diese Nahrung, nach der ihr euch so gesehnt habt, ist jetzt da! Ich bin sie selbst - mit meiner Botschaft vom jetzt anbrechenden Reich Gottes! Ihr habt mich in der ganzen zurückliegenden Zeit erlebt, meine Botschaft gehört, mein Gottvertrauen gespürt: Ich wollte nie etwas anderes als euch herausführen aus der Enge eurer Angst und Kleingläubigkeit, die euch einschnürt und euch nicht das Leben finden laßt. Jetzt, bei meinem Abschied, überlasse euch dieses Brot, in dem ihr mich selbst erkennen sollt und mein Wollen. Das Brot ist meine Erbschaft für euch, heute, in dieser Nacht. Es eröffnet euch Zukunft! Es rüstet euch aus für eueren schwierigen Weg in die Freiheit, der noch vor euch liegt, für euer Bemühen um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, für euer Bemühen um Versöhnung und für euer Bemühen um Verzicht auf Gewalt!
 
Wenn ihr euch mit diesem Brot stärkt, das ich selber bin, dann hat euer Bemühen Zukunft, dann wird für euch die Erfahrung des Reich Gottes so wirklich, wie das Finden des Gelobten Landes für eure Väter damals vor vielen Jahren Wirklichkeit geworden ist! Deswegen sage ich euch: Nehmt und eßt. Dieses Brot ist mein Leib, ist mein ganzes Leben für euch!"
 
Die Jünger nehmen dieses Brot, dieses Erbe – aber sie verstehen nicht, noch nicht. Sie hören wohl, was Jesus sagt, es ist ja auch neu genug, aber sie erfassen nicht, was er meint, wenn er so vom ungesäuerten Paschabrot spricht und damit von sich.
 
Obwohl Jesus während seines Wirkens doch immer nur dies eine gesagt hatte: In meinem Wort wird die bedingungslos vergebende Zuwendung Gottes wahrhaftige und glaubwürdige Wirklichkeit – ihr könnt mich beim Wort nehmen!, und obwohl Jesus immer nur dies eine getan hatte: Zu suchen, wer verloren gegangen ist –
 
den Jüngern fällt es schwer zu glauben, daß Jesus sich im Brot der Paschanacht selbst meint!
 
Und wie ist das mit uns, die wir heute abend ebenfalls um den Tisch Jesu sitzen – und er spricht genau diese Worte von damals!?
 
Ich glaube, das Paschamahl, das Jesus mit uns heute abend feiert, stellt uns vor eine Entscheidung:
 
Den Pharaonen nach zu folgen – und das hieße, auf Macht zu vertrauen, auf Gewalt und Einschüchterung, auf die Logik des "Haste was, dann biste was." Hieße die Überzeugung zu leben, daß der Gütige ein Trottel ist, der Arme und Schwache es nicht besser verdient hat, daß jeder sich selbst der Nächste ist.
 
Diese Lebenshaltung zu erben endet tödlich.
 
Oder Jesus nach zu folgen – und das hieße, auf die Macht der Versöhnung zu vertrauen, darauf, daß Geben seliger ist denn Nehmen, daß sein Glück der findet, der auf sein Recht verzichtet, daß der Größte der ist, der seinen Nächsten, auch seinen Feind, ungezwungen, aus freiem Herzen liebt. Immer wieder also diese Weite und diese Freiheit, diese Großzügigkeit, die zu leben uns Gott in Jesus anstiften will! Diese Lebens- und Glaubenshaltung hat Zukunft, sie wird gestärkt und genährt von etwas ganz Unscheinbarem und Kleinem: Brot.
 
Im Paschabrot, in dem sich Jesus selbst sieht, kommt uns diese Lebens- und Glaubenshaltung leibhaftig, greifbar, ja schmeckbar, entgegen. Es ist so in dieser Nacht, daß wir einen Vorgeschmack bekommen, einen sinnlichen Eindruck vom Reich Gottes, das durch uns in dieser zerrissenen Welt eine Heimat bekommen soll. Tut dies zu meinem Gedächtnis – das ist nicht allein die Aufforderung, dieses Mahl liturgisch immer wieder zu feiern – nein, es bedeutet vor allem die Einladung, das Erbe Jesu anzutreten und fruchtbar werden zu lassen in unserem Leben, in unserer Gemeinde. Das Geschenk dieser Erbschaft feiern wir heute abend.
 
Gebe Gott, daß dieses Brot uns nährt und uns dem Reich Gottes näherbringt.

Amen.

Otmar Leibold