10. 03. 2002, 4. Fastensonntag
Joh 9, 1-41


Liebe Gemeinde!

"Wer hat gesündigt?". Diese Frage hören wir in dem Evangelium von dem Blindgeborenen.
 
"Wer hat gesündigt?" Es ist eine Frage, der man durch die Zeiten hinweg begegnet – immer wieder im Zusammenhang mit der Erfahrung von Leid und Ohnmacht. Dahinter steckt der Gedanke: Irgend jemand muß doch Schuld haben an Krankheit und Leid, an dem vielen Unheil, das wir in unserer Welt erleben müssen. Irgendjemand muß doch dafür verantwortlich gemacht werden können. Warum passiert das denn alles?
 
In unserem Evangelium wird die Auffassung erkennbar: Gott straft für Sünde und Schuld. Und darum hat entweder der Kranke, der Blinde selber oder vielleicht auch seine Eltern Schuld an der Blindheit dieses Mannes. Seine Blindheit ist Ausdruck einer Strafe Gottes!
 
Diese Meinung ist offensichtlich unausrottbar in unserer Welt. Immer wieder begegnet sie: "Gott ist allmächtig. Er straft die Menschen für ihr Fehlverhalten. Leid und Not sind ein ‚Erziehungsmittel‘ Gottes". Diese Auffassung begegnet uns in der Frage: "Womit habe ich das verdient?" "Warum stößt gerade ihm das zu, wo er doch immer ein guter Mensch gewesen ist?" Vielleicht kennen Sie diese Frage auch aus Ihrem eigenen Leben – wenn Sie ein Schicksalsschlag getroffen hat, wenn Sie jemanden kennen, der mit einem Leid nicht zurecht kommt, oder wenn man einfach nur all die Not in unserer Welt sieht.
 
Aus dieser Sicht wird das Leiden als Antwort Gottes auf Fehlverhalten von uns Menschen gesehen. Gott greift ein, um Menschen zu strafen, sie zu "erziehen" und sie auf einen anderen Weg zu zwingen.
 
Natürlich ist dann auch die Gegenfrage verstehbar, die sich in unserer Zeit mächtig gegen die Rede von Gott erhebt: "Wie kann Gott dann ein liebender Gott sein, wenn er so viel Leid zuläßt oder sogar dafür verantwortlich sein soll?"
 
Die Bibel wendet sich vielfältig gegen eine solche Auffassung. Nein, Not und Elend sind nicht von Gott geschickt, nicht als "Erziehungsmittel" und auch nicht als "Strafe".
 
Ganz deutlich wird eine solche Auffassung in der Bibel im Buch "Hiob" zurückgewiesen. Hiob, der leidende Gerechte rechtet in ihm mit Gott gegen sein Schicksal. In einer großartigen Dichtung wehrt er sich gegen die Anschuldigung seiner Freunde, dass er sein Schicksal aufgrund von verborgenen Sünden, für die Gott ihn jetzt strafen würde, selber verschuldet hätte. Und er bekommt am Ende des Buches von Gott selber Recht.
 
Auch Jesus weist mehrfach die Auffassung zurück, dass Krankheit eine Strafe Gottes wäre. Nein, Krankheit, Leid und Not sind nicht von Gott geschickt.
 
Wohl gibt es aber Folgen von menschlichem Fehlverhalten. Es gibt Folgen von Schuld und Sünde, die sich gegen den Menschen selber richten. Am einfachsten läßt sich das z.B. daran erkennen, wenn ein Mensch einen Lebenswandel führt, der für ihn ungesund und schädlich ist. Wenn jemand z.B. durch den Mißbrauch von Nikotin, Alkohol oder auch einer falschen Ernährung sich selber schädigt, ist das Risiko einer Krankheit oder eines Herzinfarktes größer. Dann ist nicht Gott für eine tragische Krankheit verantwortlich zu machen sondern ich selber.
 
Oder in der aktuellen Erfahrung von Haß und Gewalt in unserer Welt können wir die Ursachen für so viel Leid unmittelbar festmachen. Auch hier wird sichtbar: Es ist nicht Gott der für den Tod von Kindern in Afghanistan, in Israel oder Palästina verantwortlich ist . Es sind die Menschen, die in ihrer Verblendung so unglücklichen Gebrauch von ihrer Freiheit machen.
 
Nein, Gott ist kein sadistischer Lehrmeister, der uns durch Schicksalsschläge und Leid bezwingen will und uns auf einen anderen Weg zwingt!
 
Aber wir müssen uns durchaus angesichts unserer Wirklichkeit immer wieder der Erfahrung von Schuld und Sünde stellen – auch ganz persönlich in unserem eigenen Leben. Die Fastenzeit kann da durchaus helfen, sich selber Rechenschaft abzulegen und sich zu Fragen: Wo muß ich umkehren? Wo gibt es in meinem Leben die Notwendigkeit z.B. neu auf einen Menschen zuzugehen und Versöhnung zu leben. Wo muß ich im Umgang mit mir, in der Gestaltung meiner Gottesbeziehung etwas verändern um mehr Leben erfahren zu können? Es kann vielleicht auch sinnvoll sein, sich selber im Sakrament der Versöhnung, in der persönlichen Beichte vor Gott zu stellen und zu bekennen: "Ich habe gesündigt und erbitte Barmherzigkeit!"
 
Aber diese Konfrontation mit eigener Schwäche macht auch noch mal sichtbar: Es ist nicht Gott, der den Menschen für seine Schwäche straft. Im Gegenteil: In unserem Evangelium wird eine ganz andere Haltung sichtbar. Es wird erzählt, daß Jesus einen Teig aus Speichel und Erde macht. Ihn legt er dem Blinden auf die Augen. Darin wird sichtbar: Der Mensch muß mit seiner Erdhaftigkeit in Berührung kommen. Wenn er den Schmutz, die Begrenztheit seines eigenen Lebens nicht sehen will, dann wird er blind. Wir müssen – liebevoll – mit dem Dreck unserer eigenen Seele in Berührung gebracht werden.
 
Nicht unsere Begrenztheit macht uns blind. Nicht unsere Fehler und Sünden zerstören die Menschlichkeit in uns. Wenn wir all das abschneiden wollen, es nicht mehr wahrhaben und wahrnehmen, dann werden wir blind für unsere eigene Wirklichkeit.
 
In der Begegnung mit dem Blinden sagt Jesus ihm: Ich bin das Licht der Welt. Das heißt: Er, wir, dürfen in diesem Licht der Liebe und der Zuneigung hinschauen auf das, was ist. Wir dürfen die Wahrheit sehen – auch unsere. Im Grund unseres Lebens finden wir – so dunkel es uns auch erscheinen mag – nur Ihn, den Gott des Lebens, der uns Licht ist.

Amen.

Harald Fischer