20.01.2002
Joh 1, 29 – 34


Liebe Gemeinde!

Was für ein starkes Glaubensbekenntnis haben wir da eben aus dem Mund des Täufers gehört: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!" Und: "Ich bezeuge: Er ist der Sohn Gottes."
 
Mancher von uns würde es sich vielleicht wünschen, eine so klare Sicht und Stellung zu Jesus zu haben und eine so deutliche Aussage über ihn machen zu können. Da ist ja zunächst kein Platz mehr für einen Zweifel oder Unsicherheit.
 
Manche ärgern sich aber vielleicht auch über eine solche Aussage. Wir leben in einer Zeit, in der das Gebot der Toleranz es fordert, viele Aussagen gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen. Und so ein Bekenntnis, das riecht nach Ausschließlichkeit, nach Exklusivität und Einzigartigkeit. Wir kennen eher andere Worte, andere Bekenntnisse: Jesus war ein guter Mensch, ein Vorbild, ein Prophet - durchaus , aber "Sohn Gottes"? Das ist und war immer umstritten.
 
Aber in der Tat: Ich glaube, dass es dem Evangelisten Johannes auch genau darum ging: Seine Sicht, seine Erfahrung von Jesus wollte er den Menschen mitteilen. Und die besteht nicht darin, dass Jesus irgendein Mensch neben anderen ist, wichtig vielleicht und auch bedeutend. Nein, er hat in ihm etwas anderes gesehen, etwas ganz anderes. Darum hat er sein Evangelium geschrieben. Nicht um einen großen Menschen zu ehren, sondern genau um seinen Glauben zu bezeugen mit den Worten, die er Johannes den Täufer reden läßt: "Ich bezeuge: Er ist der Sohn Gottes."
 
Auch und gerade angesichts eines solchen Bekenntnisses ist es angebracht zu fragen: Was heißt das eigentlich? Was will der Evangelist mit diesem Bekenntnis sagen? Es ist so umfassend, so weit, was er mit Jesus erfahren hat, daß er es nicht nur in diesem einen Wort fassen kann. Unmittelbar vorher, im selben Kapitel nennt er ihn das "Wort Gottes", das "Licht, das in die Finsternis kam". Später sagt er "Tür", oder "Leben"," Weg"," Wahrheit"," Hirte", "Wasser des Lebens" usw.
 
Immer geht es ihm darum herauszustellen, daß in diesem Mann aus Nazareth nicht nur irgendwer begegnet, nicht einmal nur ein besonders guter Mensch, sondern in ihm kommt Gott selber auf eine besondere Weise zum Vorschein. In ihm hat er, der Evangelist, etwas von Gottes Wirklichkeit selber erkannt.
 
Aber Vorsicht vor falschen Erwartungen: Mit diesem "Blick auf Gott" können falsche Vorstellungen und Erwartungen enttäuscht werden. Johannes redet vom "Lamm Gottes". Warum schickt Gott nicht einen Streiter, oder einen Machthaber – so wie man vielleicht eher erwarten und auch wünschen könnte? Schon hier, ganz am Anfang des Evangeliums wird sichtbar, daß Gott nicht eine "Ordnungsmacht" ist, die mit Gewalt Recht und Ordnung durchsetzt, wie wir es von unseren Staatensystemen gewohnt sind und auch erwarten. Schon hier, ganz am Anfang des Evangeliums wird das gewaltfreie Antlitz Gottes angedeutet. Schon hier zeigt sich die Liebe Gottes in der Ohnmacht und deutet sich das Schicksal dieses Menschen an, der als "Lamm Gottes" bezeichnet wird.
 
Für Johannes ist es klar: In Jesus wird die rettende Liebe Gottes in dieser Welt sichtbar, eine Liebe, die die Angst des Menschen entmachtet, die der "Sünde der Welt" zugrunde liegt. Auf diesen Gott möchte Johannes mit dem Verweis auf Jesus zeigen: "Seht! Das Lamm Gottes."
 
Aber wie kommt Johannes der Täufer selber zu dieser Erkenntnis? Wie kommt er zu seinem Glauben?
 
Ein zentrales Wort des Evangeliums besteht in seiner Aufforderung: "Seht!" Er selber war ein Seher, ein Prophet. Ein Prophet ist kein "Wahrsager", der irgendwelche Ereignisse zutreffend vorher sehen kann. Ein Prophet ist jemand, der die Dinge, die Welt, die Menschen wirklich sieht und in ihnen die Gegenwart Gottes erkennen kann. Er sieht hinter die Oberfläche dieser Welt. Und so hat Johannes der Täufer in Jesus die bleibende Gegenwart Gottes ("Ich sah, daß der Geist Gottes herabkam und auf ihm blieb" Joh1,32) gesehen.
 
"Seht!" Das ist die Aufforderung des Johannes an seine Jünger – und das ist die Aufforderung, die an uns heute ergeht. Seht hin! Es ist gleichzeitig eine Aufforderung zur "Meditation der Person Jesu": zum Hinsehen auf seine Person, auf seine Worte, auf sein Handeln. Es ist die Aufforderung, ihn mehr und mehr kennenzulernen und uns auf diese Weise hineinziehen zu lassen in das Geheimnis seiner Person. Am Anfang eines solchen Weges wird das vielleicht bedeuten, die eher äußere Gestalt der Person Jesu kennenzulernen: sein Leben und sein Handeln. Aber, so sagt uns das Evangelium des Johannes in seinem weiteren Verlauf, mehr und mehr kann man auf diese Weise hinter der Oberfläche die Bedeutung dieser Person erkennen und entdecken, bis man schließlich die wahre und tiefe Bedeutung des Wortes "Lamm Gottes" im Geschehen der Passion offenbart bekommt.
 
Der Weg zu einer solchen Erkenntnis wird im weiteren Verlauf des Evangeliums, das heute nicht mehr vorgelesen wurde, angesprochen und sichtbar gemacht. Auf das Wort des Täufers hin folgen zwei Jünger Jesus und "blieben an jenem Tag bei ihm".
 
Mit ihm gehen, bei ihm bleiben, verweilen, schließlich "Zeugnis geben", das ist das Wesen von Kirche, von Gemeinde – Orte der Begegnung mit dem "Lamm Gottes".
 
Mit dem Glaubensbekenntnis des Johannes ganz am Anfang des Evangeliums wird dem Leser, wird uns sozusagen ein "ACHTUNG" Schild aufgestellt: Achtung, in dem was dir hier begegnet, in diesen Erzählungen über Jesus von Nazareth zeigt sich mehr als nur eine Biografie. Hier zeigt sich göttliche Wirklichkeit. Sieh hin! Laß dich davon ergreifen und umgestalten!
 
Harald Fischer