09.09.2001
Lk 14,25-33


Liebe Gemeinde!

"Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet" (LK 14,33). Das ist ein hartes Wort, das Jesus uns heute im Evangelium zumutet. Jemand aus unserer Gemeinde sagte mir in diesen Tagen: "Dieses Wort Jesu macht mich traurig. Ich kann das so nicht leben. Ich will Jesu Jünger sein. Ich will zu ihm gehören. Ich will mit ihm leben – aber nicht so! Ich kann nicht mein Bankkonto auflösen, ich kann nicht mein Haus verkaufen, ich will Eigentum haben!"
 
Ich kann sehr gut verstehen, dass man sich an diesem Satz reiben kann: "Keiner von euch kann mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet!"
 
Aber – liebe Gemeinde – ich glaube, dass Jesus hier mehr und etwas anderes meint, als nur eine Vorschrift, wie wir unsere Geldangelegenheiten regeln sollten. Vorgestern – am Herz-Jesu-Freitag – war ich in unserer Gemeinde unterwegs und habe die älteren und kranken Gemeindemitglieder besucht, die nicht mehr zum Gottesdienst kommen können, um ihnen die Krankenkommunion zu bringen. Dabei habe ich auch – wieder – eine Frau aus unserer Gemeinde besucht, die schon seit sehr langer Zeit ans Bett gefesselt ist, weil sie nach einer schweren Lungenkrankheit zu schwach ist, um ausreichend Atem zu bekommen und zusätzlich beatmet werden muß. Mit gerade 60 Jahren ein solches Schicksal zu erleben, ist schon ein schwerer Einschnitt im Leben. Ich habe diese Frau bei unserer Begegnung gefragt: "Wie halten Sie das aus, bei allem, was Sie erleiden müssen, trotzdem so in Frieden und Ruhe hier zu sein?" Sie antwortete: "Es gilt, das Glück im Unglück zu finden! Ich liege hier – zwar angewiesen auf andere Menschen – aber doch in Ruhe und Frieden. Viele Menschen die draußen rumlaufen, können zwar ihr Leben freier gestalten, als ich das kann, aber manche von ihnen haben doch innerlich die Hölle, weil sie mit sich selbst nicht zurecht kommen. Ich versuche einzustimmen in das, was ist."
 
Einstimmen in das, was ist. Ich glaube, in dem, was diese Frau da offensichtlich für sich selbst gefunden hat und leben kann, kommt etwas von dem zum Ausdruck, was Jesus in diesem Evangelium meint und sagen will. Ich nenne das einmal die "Spiritualität der offenen Hand". Viele gerade auch der älteren unter uns kennen das: Es gibt Zeiten in unserem Leben, da haben wir etwas, was uns ganz wichtig und kostbar ist – und dann machen wir doch die Erfahrung, dass wir es nicht festhalten können, so kostbar und wichtig es uns auch sein mag. Z.B. die Kraft und die Möglichkeit, unseren Lebensalltag zu gestalten. Irgendwann kommen Alter, Krankheit, und wir erfahren die Begrenzungen unseres Lebens. Oder Menschen erleben, dass ihnen der Lebenspartner, so kostbar er einem auch gewesen sein mag, genommen wird. Das Leben oder auch der Tod hat ihn weggeführt. Oder alle Eltern machen mit ihren Kindern diese Erfahrung: So sehr sie auch die Zeit mit den Kleinkindern genossen haben mögen, irgendwann - spätestens in der Pubertät – erleben sie, wie die Kinder sich distanzieren und abgrenzen und später dann auch ganz weggehen. NICHTS IM LEBEN BLEIBT. Und wenn man dann nicht lernt, loszulassen, bleibt nur die Verbitterung und der Schmerz am Leben mit den unerfüllten Wünschen zurück.
 
Ich glaube, das Wort Jesu vom "Verzicht" ist eine Einladung, den Halt, den letzten Halt nicht in den Dingen dieser Welt zu finden, sondern in dem, der allein verläßlich ist und bleibt: in Gott und im Wort Jesu, das uns von Gott erzählt.
 
Aber um das zu lernen und um es zu verstehen, dafür braucht es Zeit. Keiner wird geboren und ist schon am Ziel seines Lebens. Es braucht Zeit, um die Herausforderungen des Lebens zu erkennen und zu bewältigen. Und wir dürfen uns diese Zeit nehmen. Wenn für einen Jugendlichen das erste Auto der Himmel auf Erden selber zu sein scheint – das ist doch wirklich verstehbar. Irgendwann wird er merken, wie vorläufig dieser Besitz ist, spätestens beim ersten Crash. Oder wenn zwei frisch Verliebte sich gegenseitig als ihr "ein und alles" erleben: Wie schön, wenn Menschen das in einer solchen Tiefe einmal erfahren können. Sie werden schon noch merken, dass Konflikte und Schwierigkeiten auch zu einer lebendigen Beziehung dazugehören. Das Leben selber ist unser Lehrmeister. Keiner kommt um die Erfahrung herum: Man kann nichts festhalten. Und je älter wir werden, umso weniger kann man dieser Erfahrung ausweichen.
 
Bei diesem Erfahrungsweg des Lebens ist es wichtig, immer neu mit dem Wort konfrontiert zu werden, das uns hilft, weiterzugehen – und auch wirklich loszulassen und damit neu zu finden. Das Wort Jesu lädt uns ein, diese Erfahrung zu machen.
 
Die "Spiritualität der offenen Hände" meint: Gott gibt – und wir dürfen das, was uns im Leben begegnet, mit aller Freude genießen und ausschöpfen. Es ist ja die Gabe des Schöpfers selber. Gott gibt, aber er nimmt auch wieder – um neu zu geben. Wenn wir damit beschäftigt wären, festzuhalten, was uns gegeben ist, wären unsere Hände geschlossen und verkrampft. Dann könnten wir nicht neu empfangen. Wenn wir festhalten, verlieren wir.
 
So können wir Jesus im Evangelium sagen hören: "Wenn ihr euch an eurem Besitz festhaltet und von ihm die Erfüllung im Leben versprecht, seid ihr noch weit davon entfernt zu verstehen, was es bedeutet, mir nachzufolgen und darauf zu vertrauen, das Gott alles schenkt, worauf es ankommt!"

Harald Fischer