11. November 2009, Totengedenken

Jer 31, 2-5.7-10


Liebe trauernde Angehörige, liebe Gemeinde!
 
Unser christlicher Glaube, der sich den Erfahrungen Israels mit seinem Gott und dem Glauben des Jesus aus Nazaret verdankt, lebt von nichts weiter als von einer großen Hoffnung. „Von nichts weiter“ - was heißt das? Es hört sich an, als sei dieser Glaube gering: „nichts weiter“ eben als klein und fruchtlos. Nein, dieses „nichts weiter“ meint nicht Fruchtlosigkeit, sondern: Radikalität. Radikal ist unsere Hoffnung deswegen, weil sie sich einzig verlässt auf das, was „kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat“ - und das dennoch einzig tragende Wirklichkeit sein soll für mein Leben, für unser Leben, für diese ganze Welt. Was ist das für eine Hoffnung?
 
Die Bibel erzählt diese Hoffnung in zwei Arten von Geschichten. Die eine beginnt mit: „Am Anfang...“ Diese Geschichte, mit der unsere Bibel beginnt von Gott zu erzählen, ist die Grundgeschichte des guten Anfangs. Der Anfang der Welt, der Anfang des Menschen war nicht die Kälte oder der Zufall, nein: der Anfang war Güte. „Siehe, es war gut!“ heißt es nach jedem Schöpfungsakt. Diese Geschichte vom guten Anfang erzählt: Ehe wir geboren waren, hat Gott das Chaos gebändigt, das uns im Laufe unseres Lebens immer wieder zu verschlingen droht. Er hat das Wasser in Oben und Unten geteilt, damit wir frei atmen können. Er hat das Land getrocknet, damit unser Fuß in Freiheit gehen kann. Welcher Stolz liegt in dieser Erzählung, und welche Freude: Vor Urzeiten ist an mich gedacht! Mein Leben ist nicht sinn- und planlos, denn mein Anfang war gut! Das ist ein mächtiger Satz, eine mächtige Hoffnung! Sie macht den so Hoffenden stark und selbstbewusst.
 
Die zweite Art von Geschichten unserer Hoffnung beginnt mit: „Es wird einmal sein!“ Diese Geschichten erzählen vom guten Ausgang unseres Lebens, sie erzählen davon, dass das Unrecht nicht für immer Unrecht bleibt, die Trauer nicht für immer Trauer, die Trostlosigkeit nicht für immer Trostlosigkeit.
 
Eine solche Hoffnungsgeschichte haben wir eben vom Propheten Jeremia gehört; er erzählt sie in seinem Trostbüchlein; so nennen wir die beiden kurzen Kapitel, die er als Brief an die Zwangsexilierten und Deportierten nach Babylon schreibt. In diesem Trostbuch richten zwei verschiedene Stimmen ihr Wort an die Ermüdeten und Verzweifelten im Exil; sie wechseln sich beständig ab, mal spricht die eine, dann wieder die andere Stimme, es spricht der Mensch und Prophet Jeremia, dann ist es Gott selbst, der spricht:
 
So spricht der Herr: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt.“
 
Jubelt Jakob voll Freude zu und jauchzt über das Haupt der Völker! Verkündet, lobsingt und sagt: Der Herr hat sein Volk gerettet...
 
„Seht, ich bringe sie heim aus dem Nordland und sammle sie von den Enden der Erde, darunter Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen; als große Gemeinde kehren sie hierher zurück.
 
Weinend kommen sie und tröstend geleite ich sie. Ich führe sie an Wasser führende Bäche, auf einen ebenen Weg, wo sie nicht straucheln. Denn ich bin Israels Vater und Efraim ist mein erstgeborener Sohn.“
 
Warum sollen die deportierten Juden in Babylon dies hoffen? Warum sollen sie an den guten Ausgang ihres Lebens glauben? Und weshalb sollen und können wir an den guten Ausgang unseres Lebens und an den unserer Verstorbenen glauben?
 
Die eine Antwort ist: Weil der Anfang, der Urbeginn von allem gut war, weil Gott schon von Urbeginn gut war zur Welt, zum Menschen.
 
Und die andere Antwort lautet: Weil Gott Gott ist - und das heißt in der Sprache der Selbstmitteilung Gottes an die Exilierten: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt.“
 
Ein - sehr menschlich empfunden und gesprochen - für einen Gott ungeheures Selbstbekenntnis: Ewige Liebe und Treue; zu uns Menschen, den Sterblichen, den Unzulänglichen. Ausgerechnet zu den gefährlichsten all seiner Geschöpfe!
 
Ewige Liebe: Nicht zufällige, auch nicht bedingte; auch nicht abhängige von einer Frist oder einem Verhalten. Ewig eben, also: immer, zu jeder Zeit, in jedem Schicksal, in jedem Leid, auch im Sterben, auch im Tod.
 
Wir dürfen und können dies hoffen, weil Gott selbst es von sich sagt: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt.“
 
Wir haben nichts in der Hand, das diese Hoffnung beweisbar machen würde, Gottes eigenes Wort muss genügen. Es will uns tragen, heilend, tröstend hier und jetzt, heimwärts über unseren Tod hinaus.
 
Feiern wir heute Abend miteinander diese Hoffnung, in unseren Liedern, in unseren Gebeten, in Brot und Wein, Zeichen der Treue Gottes auch in all unserer Trauer.
 
Amen.
 
Otmar Leibold