20./21. März 2010, 5. Fastensonntag
Joh 8, 1 – 11

Liebe Gemeinde!

Es ist den Evangelisten sicher nicht leicht gefallen, die Geschichte von der Ehebrecherin ins Evangelium  aufzunehmen. Wie konnten sie vermitteln, um was es ihnen eigentlich ging? Es liegt ja ein Mißverständnis sehr nahe: dass Jesus mit ehelicher Treue oder auch mit dem Thema „Schuld“ lax und banalisierend umgehen würde. Vielleicht spielt heute ein „Seitensprung“ keine große Rolle mehr. Aber noch vor wenigen Jahrzehnten und erst Recht zur Zeit Jesu war die Ehe eine heilige Institution, auf der die Gesellschaft aufgebaut war und die einem hohen Schutz unterlag. Sollte Jesus deren Bedeutung untergraben wollen?

Wie konnte der Evangelist das Geschehen so überliefern, dass sichtbar blieb, worum es eigentlich geht? Er hat eine hervorragende Form gefunden, die über die Zeiten hinweg nicht nur die Erinnerung an eine individuelle Erfahrung bewahrt hat, sondern die Maßstab für den Umgang mit Schuld geblieben ist.

Wie war die Ausgangssituation?
Eine Frau – beim Ehebruch ertappt, „auf frischer Tat“, wie es sogar anzüglich heißt!
Der Liebhaber ist mittlerweile über alle Berge. Für ihn interessiert sich keiner mehr. Die Zeugen – alles Männer – interessieren sich für ihr Opfer, die Frau.

Warum sind sie so an der Steinigung interessiert? Warum sind sie so hart gegen eine wehrlose Frau?

Was sie getan hat, reizt an zur eigenen Begehrlichkeit. Ihre Tat ist es, die für die Männer im Bereich der eigenen Möglichkeit liegt. Und genau davor wollen sie sich schützen. So möchte man nicht sein, nicht einmal zugeben möchte man, dass man so denken könnte. In der Strafe und Verurteilung der Frau sollen die eigenen unheimlichen  Abgründe getötet werden.

Das ist die Form schlechthin, mit der Menschen oft, sehr oft mit den eigenen Abgründen und Schattenseiten umgehen: sie werden verdrängt, an die Seite geschoben, nicht wahr genommenen und auf andere projiziert.

Es ist viel einfacher, beim Anderen zu bekämpfen und auch nach Möglichkeit auszurotten, was ich bei mir nicht leiden kann und nicht sehen will.

Vielleicht ist das auch eine eigene Erfahrung, die ich an mir selber feststellen kann: das, was mich am Anderen „bis aufs Blut reizt“ ist oft das eigene Thema, dem ich mich nicht stellen will. Es ist viel einfacher, beim Anderen zu bekämpfen, was man bei sich selber  wahrnimmt und fürchtet. So kann man den eigenen Untiefen ausweichen – und das sogar scheinbar noch im „Dienst der Gerechtigkeit“!

In einen solchen Konflikt ist Jesus gestellt. Es geht in dieser Auseinandersetzung nicht um die moralische Beurteilung eines moralischen einzelnen Fehltrittes, nicht darum, Schuld zu verharmlosen – nicht bei der Frau und nicht bei uns. Es geht um den grundsätzlichen Umgang mit der Schuld, die ich bei einem Anderen wahrnehme.

Manchmal wird dieses Evangelium pervertiert. Der Satz Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ kann niemals benutzt werden, um eigene Schuld zu verharmlosen oder um sich zu ent – schuldigen. Wer ihn so liest, stellt sich gegen die eigentliche Aussageabsicht.

Wer auf andere zeigt – wie es die Männer im Evangelium tun, die ihre Anklage gegen die Frau erheben – kann mit seiner Anschuldigung möglicherweise Recht haben. Aber er muß sich bewußt machen, dass damit gleichzeitig drei Finger auf ihn selber zeigen.

Bevor ich Andere verurteile, gilt es zunächst, eine eigene Auseinandersetzung zu bewältigen, die eigenen Themen wahrzunehmen, die eigene Betroffenheit zu erkennen und sie aus der Verdrängung ans Tageslicht zu holen. Dann kann das Wesentliche und Entscheidende passieren. Das ist die Herausforderung, vor die die Männer sich auf einmal gestellt sehen.

Liebe Gemeinde!

In diesen Tagen und Wochen werden wir mit einem unglaublichen Skandal in unserer Kirche konfrontiert: dem Bekanntwerden von sexuellem Mißbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Mitarbeiter der katholischen Kirche.

Jeden Tag erfahren wir aufs Neue von gräßlichen Handlungen, die vor allem Priester an Schutzbefohlenen verübt haben. Es ist schon manchmal richtig peinlich, sich am Arbeitsplatz oder im „normalen Leben“ als Katholik zu outen. „Wie kannst du noch zu einer solchen moralisch korrupten Organisation gehören?“ wird man da manchmal direkt oder indirekt gefragt.

Sage keiner: Das ist nur eine Hetzjagd der Medien auf die katholische Kirche. Oder: Das gibt es ja überall und bei uns in der Kirche geschieht das doch viel weniger als an anderen Orten! Wir erheben einen sehr hohen moralischen Anspruch. Der ist Maßstab, die Situation in unserer Kirche zu beurteilen!

Wir müssen uns den Tatsachen ungeschönt stellen, wahrnehmen, was ist und die Wahrheit aushalten.

Bei aller Scham, bei allem Zorn und bei aller Enttäuschung, die wir erleben: Ich sehe in den aktuellen Geschehnissen auch eine Chance: nämlich dass wir lernen, hinzuschauen, aufzuklären und unsere Kirche zu verändern. Wir müssen wahrnehmen: Unsere Kirche ist auch eine Kirche der Sünder! Sie ist keine „perfekte Gesellschaft“. Das sage ich nicht entschuldigend in dem Sinne: Das kann ja alles mal vorkommen und ist eigentlich nicht so schlimm. Da gibt es halt ein paar schwarze Schafe; die müssen eliminiert werden. Dann ist alles wieder gut und wir können so weitermachen wie bisher!“

Nein, die Krise reicht tiefer. Jemand aus unserer Gemeinde sagte mir diese Woche: „Meine Kirchenzugehörigkeit ist richtig in Frage gestellt. Nicht, dass ich austreten wollte. Aber die `Wohlfühl – Kirche` ist kaputt!“

Ja, es gibt Fehler in der Kirche. Die müssen angeschaut, benannt und verändert werden. Wenn uns das gelingt, dann kann diese Krise zu einer Chance werden.

So ist z.B. zu lange das Thema „Sexualität“ in unserer Kirche verschwiegen, tabuisiert, verdrängt worden. Zu lange hat die Kirche anderen Vorschriften gemacht und nicht genügend hingeschaut, was es an Fehlformen, an Verschweigen und an Heuchelei in den eigenen Reihen gegeben hat. Man bekommt heute immer mehr den Eindruck, dass vieles möglich war, wenn es nur nicht bekannt und öffentlich gemacht wurde.

Diese Schuld der Kirche muß eingestanden, bereut und wieder gut gemacht werden.

Diese Krise bietet auch eine Chance zur notwendigen Veränderung und Reinigung. Wir müssen lernen, hinzuschauen und Verdrängtes wahrzunehmen. Damit meine ich nicht nur die sexuellen Übergriffe, die als Straftaten zu bewerten sind. Ich meine damit auch die Unklarheiten, die durch ein Pflichtzölibat hervorgerufen werden, das nicht alle Priester leben können oder wollen. Ich möchte Menschen, die das nicht leben können, gar nicht verurteilen; aber wohl gehören die Strukturen in unserer Kirche verändert, die Menschen, die Priester nötigen, sich zu verstecken oder zu heucheln.

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Jesus prägt einen genialen Satz; nicht, weil er damit die Schuld der Frau verharmlosen würde, sondern weil er die Männer provoziert, den Weg der Verdrängung zu verlassen und sich selber wahrzunehmen – mit all den Gefühlen, vor denen sie bisher geflüchtet sind: die eigenen Gefühle der Rechthaberei, des Sadismus, der Begehrlichkeit, der Hartherzigkeit.

Dieser Satz ist Ursache für das Wunder, das sich ereignet. Er hilft ihnen, Zugang zum eigenen Leben, zu den eigenen Gefühlen zu finden.

Wenn das geschieht, kann man merken, wie unbedroht und ruhig man mit den eigenen Antrieben leben kann, denn ohne Angst sind sie nicht mehr schlimm. Unverdrängt und zum Leben zugelassen sind sie geordnet und lebensfördernd.

Gott hat sich nicht vertan, als er das Herz des Menschen erschaffen hat – mit all seinen Leidenschaften, Wünschen und Gefühlen.

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem Andern fort, zuerst die Ältetsten.“

Das Wunder ist geschehen!

Die Männer gehen weg – nicht als Gedemütigte oder als Verlierer, sondern selber als Erlöste und Befreite, die einen neuen Zugang zu sich finden können und die ihre Verachtung, ihren Haß nicht mehr gegen die Frau ausleben müssen.

Die Frau geht weg – als Erlöste und Befreite, ohne dass ihr Ehebruch verniedlicht oder verleugnet würde. Die Schuld ist nicht bagatellisiert und weggeredet. Sie ist einer neuen Erkenntnis und einer neuen Freiheit gewichen.

Darin sehe ich die Hoffnung der gegenwärtigen Krise in unserer Kirche. Wir müssen lernen hinzuschauen. Da gibt es in unserer Kirche Verdrängtes, Ungesehenes, an die Seite Gestelltes; Themen, die offiziell nicht da sein sollten, die aber dennoch ihr Recht beanspruchen und die Leben wollen. Wenn wir uns dem Geschehen stellen und daraus lernen und die richtigen Konsequenzen ziehen – auch für unser konkretes Kirchenbild -  können wir daran wachsen.

Aber damit das gelingen kann, müssen wir noch einen schweren Weg bewältigen.

Amen

Harald Fischer