28. Juni 2009, 13. Sonntag im Jahreskreis
Mk 5, 21 - 43


Liebe Gemeinde!

Die Evangelien, so wie sie uns in der Heiligen Schrift überliefert sind, sind im „Licht der Osterkerze“ geschrieben. Erst Ostern, Pfingsten, also sozusagen „im Nachhinein“, ist den Jüngern wirklich aufgegangen, mit wem sie es zu Tun hatten, als sie Jesus erlebten. Erst da haben sie ganz verstanden, welchen Auftrag er an sie weiterzugeben hatte und mit welcher Sendung sie beauftragt worden waren.
Erst nach ihrer Ostererfahrung erkennen sie ihn als „Sohn Gottes“. Diese Wahrheit, ihre Glaubenswahrheit wollen sie den späteren Menschen, also uns, übermitteln.

Die „übernatürliche Wirklichkeit“ ihres Glaubens können sie nur mit den „natürlichen Mitteln“ unserer Welt darstellen. Andere haben wir ja nicht zur Verfügung. Als Menschen dieser Welt können wir nur in unserer Welt leben und stehen uns nur „weltliche Mittel“ zur Verfügung. Wenn sie aber göttliche Erfahrungen vermitteln wollen, bleibt notwendigerweise etwas „offen“. 
Das können wir in dem Evangelium des heutigen Sonntags gut erkennen.

Dieses Evangelium hat zunächst eine rationale Seite, die es zu beachten gilt.
Es begegnet uns ein Vater, der es offensichtlich schwer hat, seine Tochter in die Eigenverantwortung zu überlassen: „Meine Tochter liegt im Sterben!“ Wenn wir diese Aussage wörtlich übersetzen, sehen wir, dass es im Griechischen heißt: „Mein Töchterlein liegt im Sterben!“ Der Vater benutzt die Verkleinerungsform - und das gegenüber einer Frau, die in dem damaligen Kulturkreis mit 12 Jahren ins heiratsfähige Alter gekommen war. Mit 12 Jahren gingen die jungen Frauen in der Regel aus dem Haus. Sie heirateten und bauten sich damit ein eigenes Leben auf. Sie verließen die Abhängigkeit des eigenen Elternhauses und übernahmen Selbstverantwortung.
Diesem Vater, von dem das Evangelium erzählt, war das offenbar schwer. Er wollte seine Tochter halten, festhalten. Und - vielleicht gegen seinen eigenen, vermutlich auch guten Willen - hinderte er damit seine Tochter an ihrem eigenen Leben. Er hat ihr den eigenen Raum genommen und sie mit seiner Angst selber lebensunfähig gemacht, sie entmündigt und ihr Kraft und Zutrauen zu sich selber genommen.

Indem er zu Jesus kommt und ihn um Hilfe bittet, geht er einen ersten Schritt zur Veränderung. Er erkennt seine eigene Ohnmacht und erkennt an, dass er nicht mehr alles in der Hand hat. Er sucht nach Wegen, loslassen zu können.

Jesus wendet sich ganz folgerichtig auch zunächst dem Vater zu und nicht der Tochter, für die er um Hilfe angegangen worden ist. Er spürt die Angst des Vaters, alles festhalten zu müssen. 
„Sei ohne Angst! Glaube nur!“
Wenn man so ein Wort an sich selber herankommen lässt, es in sich hinein fallen lassen kann, seine Bedeutung versucht zu erspüren, kann man merken, welche befreiende Kraft in ihm wohnt und wie ein Leben aus einer solchen Zusage heraus weit und frei werden kann.
„Sei ohne Angst! Glaube nur!“ In diesem Wort begegnet uns die Grundbotschaft Jesu, die er aus seinem Verwurzeltsein in Gott begründet.

Jesus wendet sich dem Mädchen zu. „Mädchen! Ich sage dir steh auf!“ Er traut ihr zu, dass sie sich auf die eigenen Füße stellt. Er traut ihr zu, dass sie ihren persönlichen Weg geht, ihre Kraft findet, ihr eigenes Leben entfaltet. Er hält sie nicht fest, sondern gibt ihr Freiraum, das Leben auszuprobieren, es zu wagen. Indem er sie bei der Hand fasst, wird deutlich, dass er ihr von seiner eigenen Lebenskraft anbietet. Sie spürt sein Vertrauen und das gibt ihr Kraft, eigene Schritte ins Leben zu wagen, Selbstverantwortung zu leben.

Hier begegnet uns eine Wahrheit. Aber die eigentliche Wahrheit der Jesuserzählungen liegt nicht nur auf der einfachen Erzählebene. Das eben haben die Jünger nach Ostern verstanden. Es gibt ein „dahinter“ oder ein „darüber.“  Es gilt, die sensationell klingenden Wundererzählungen immer neu anzuschauen und sich betend in sie zu vertiefen.
Es begegnet  nicht nur der geniale Therapeut, der aus seiner gefestigten Persönlichkeit den Menschen hilft, ihr eigenes Leben zu entdecken und zu entfalten. Diese Wahrheit stimmt auch. Und es ist unendlich kostbar und hilfreich, sie immer wieder zu erkennen und von diesem Lebenswissen Jesu sich bereichern zu lassen.
Aber im immer tieferen Hinschauen auf diese Erzählungen können wir - wie die Jünger - entdecken, dass wir durch Jesus hindurch dem heilenden Gott begegnen. Er selber ist es, der uns bei der Hand nimmt und uns zusagt: Ich sage dir steh auf! Er selber ist es, der uns in unseren Ängsten und in unserem beschädigten und unfertigen Leben begegnet und uns sagt: „Hab keine Angst. Glaube nur!“
Gott selber wendet sich uns zu - in der Weise, dass man völlig richtig sagen kann, dass sogar scheinbar endgültig Totes wieder zum Leben gerufen wird. Unser psychischer Tod, dem wir im Lebend so oft begegnen, wird durch diese heilende Kraft überwunden. Und sogar der Tod als Ganzer hat gegen diese Leben schaffende Kraft der Liebe Gottes keine Kraft. Auch dieser Tod wird überwunden und wir werden zum endgültigen Leben gerufen.

Es gilt, in den „weltlichen“ Worten der Jesuserzählungen diese tiefere Wahrheit zu erkennen und die zeitlose Wirklichkeit zu glauben, die sich uns ent - decken will. Nur so können wir die „Länge und Breite, die Höhe und Tiefe“ der göttlichen Wahrheit schauen.
Der im Glauben sehend Gewordene bekommt eine ganz andere Sicht der Dinge, als der, der nur rational kritisch denkend diese Welt wahrnehmen will.

Wir dürfen die Worte Jesu als Wort Gottes an uns gerichtet hören: „Hab keine Angst! Glaube nur!“ und „ Mensch, ich sage dir, steh auf.“

Amen.

Harald Fischer