22. März 2009, 3. Pauluspredigt in der Fastenzeit
Paulus - Gerecht gemacht aus Gnade


Liebe Gemeinde!

In diesen Wochen der österlichen Bußzeit denken wir in unserer Gemeinde über Paulus, den großen Völkerapostel nach, um ihn mit seiner Person und Theologie mehr zu verstehen.

Paulus war ein Theologe aus Leidenschaft. Aber er war kein „Schreibtischtheologe“, der seine Theologie in vielen Büchern niedergeschrieben hat. Er hat seine Lebenserfahrung auf Gott hin reflektiert. Zu seiner Lebenserfahrung gehört entscheidend die große Wende in seinem Leben, die einen solchen Einschnitt bedeutet hat, dass man sein Leben sogar einteilen kann in ein „Vorher“ und in ein „Nachher“, in die Zeit vor seiner Lebenswende und die Zeit nach dieser Lebenswende.

Paulus war Jude, frommer Jude. Die Thora, die Heilige Schrift Israels, das Gesetz, die Messiaserwartung seines Volkes war für ihn lebensbestimmend. Die Wende war sein Damaskuserlebnis, in dem ihm die Offenbarung zuteil wurde, dass in Jesus von Nazareth, dessen Anhänger er zuvor verfolgte, der verheißene und erwartete Messias Gottes den Menschen begegnet ist. In ihm hat sich der Heilswille Gottes seinem Volk und der ganzen Welt geoffenbart.

Vorher, vor dieser großen Christuserfahrung, so urteilt er aus der Perspektive des Nachher, ging es ihm um die Vorzüge des eigenen Ichs, um seine eigene Größe, weil er sich nach dem Wert seines religiösen Tuns bewertete. Er schreibt mehrfach in seinen Briefen, dass er stolz darauf war, Hebräer zu sein, Pharisäer, dass er sich als gesetzestreuen Menschen erlebt hat. Er war ein Eiferer für die Thora, für das Gesetz, ein Eiferer für die Tradition der Väter, in der er den  einen Weg zu Gott gesehen hat. Mit Eifersucht hatte er versucht, das Eigene des jüdischen Volkes zu verteidigen und rein zu halten. Im Brief an die Galater schreibt er später über diese Zeit: „Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe und ihr wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte“ (Gal 1,13).

Nachher, nach seiner Damaskuserfahrung, wandelten sich sein Denken und seine Wertmaßstäbe entscheidend. Der Heilsweg der Thora, das Gesetz, das vorher alles bestimmte, verliert für ihn an Bedeutung. Die Thora gilt noch, sie ist noch ein Weg zu Gott - so wie die Thora für Juden auch heute noch ein guter und klarer Weg auf Gott hin ist, aber für Paulus ist es nur noch ein Weg. Entscheidend ist für Paulus die Christuserfahrung geworden. Sie ist das Neue, das Zentrum. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). An die Gemeinde in Korinth schreibt er: „Wenn jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung. Das  Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“ (2 Kor 5,17 b).

Er selber beschreibt diese Erfahrung immer wieder als die Erfahrung einer ganz anderen Weise, das Leben wahrzunehmen und Gott zu finden. Im Evangelium begegnet uns ein Gleichnis Jesu vom Schatz im Acker oder von der kostbaren Perle, für die der Kaufmann alles weggibt, um diese eine Perle zu erwerben. Christus ist für Paulus dieser Schatz geworden, der sein Leben einzigartig neu  bestimmt. Im Licht dieser neuen Entdeckung, der neuen Lebensgrundlage, die Christus ihm geworden ist, erscheint ihm die frühere Basis geradezu lächerlich und erbärmlich. Er fragt sich, wie er früher überhaupt darauf setzen konnte. Das wird ihm im Nachhinein unbegreiflich, aber eben erst im Nachhinein. An die Gemeinde in Philippi schreibt er: „Was mir damals ein Gewinn war, dass sehe ich um Christi Willen als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Dreck, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt. Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen“ (Phil 3,8-10).

Diese Erfahrung beschreibt Paulus als eine schöpferische Tat Gottes. Wie Gott am ersten Schöpfungstag aus dem Dunkel das Licht hat aufstrahlen lassen, so ist am neuen Schöpfungsmorgen, an dem Ostern, das er vor Damaskus erlebt hat, Christus in seinem Herzen aufgeleuchtet. In einem seiner Briefe schreibt er: „Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht leuchten, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (2 Kor 4,6).

Die Theologie nennt diese Grunderfahrung des  Paulus die „Rechtfertigungstheologie“. Es ist die Mitte seiner theologischen Botschaft: kein Tun, keine Anstrengung, auch keine religiöse Leistung, nichts, was ich aus meinem eigenen Leben vollbringen könnte, könnte dazu reichen, dass ich vor Gott Ansehen bekomme. Allein der Glaube an Christus Jesus ist es, der gerecht macht. Kein Mensch kann sich im Blick auf seine eigenen Leistungen vor Gott rühmen. Alles ist Gabe Gottes, die mir in Jesus Christus sichtbar geworden ist: „Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt“ (Phil 3,9+10).

Das ist keine abstrakte Theologie. Diese Überzeugung  hat ungeheure Auswirkungen auf das Leben und den Alltag. Stellen wir uns einen - vielleicht älteren - Menschen vor, der im Blick auf sein Leben zu folgender Aussage kommt: „Ich stehe vor den Scherben meines Lebens. Ich sehe meine kaputte Ehe, die missglückte Erziehung der Kinder, Schulderfahrungen, die ich nicht mehr beheben kann. Und ich bin konfrontiert mit einer Krankheit, die mein Leben bald beenden wird. Die Ziele meines Lebens habe ich nicht erreichen können.“ Es ist schlimm, wenn man eine solche Bilanz ziehen muss. Manche von uns werden vielleicht ähnliche Teilaussagen machen müssen.

Im Licht der Erfahrung des Paulus aber können wir sagen: Die Scherben unseres Lebens sind der Ort, an dem wir die Gnade Gottes erfahren. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen, die mir zuteil wurden, nicht überhebe, wurde mir ein Stachel Satans ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit den Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe“ (2 Kor. 12,7). Man vermutet, dass dieser „Stachel, der Bote Satans“, den Paulus beklagt, eine Krankheit war, unter der er gelitten hat. Vielleicht war Paulus Epileptiker gewesen oder er hatte eine körperliche Behinderung, die ihn im Umgang mit den Menschen sehr beeinträchtigte und seinen guten Ruf beschädigte. Paulus schreibt weiter: „Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse.“ Man könnte in unserer Sprache heute sagen: Ich habe Gott gebeten, dass meine Krankheit weggeht oder dass meine innere Schwäche mich nicht weiter plagt. Paulus schreibt weiter: „Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt“ (2 Kor 12,8f.).

Diese Wahrheit will Paulus seinen Gemeinden zusagen. Sie gilt es zu erfassen und zu verstehen. Nicht wir mit unseren Möglichkeiten, die durch unsere seelische Armut oder unsere geistlichen Zweifel oder unsere Angst oder unsere körperlichen Einschränkungen begrenzt sind, geben den Ausschlag für die Gnade Gottes, die uns geschenkt werden soll. Wir können uns nicht mit unseren Vorzügen oder Leistungen Gottes Gnade verdienen oder erwerben. Es ist reines Geschenk, dass Gott sich uns zuwendet. Gerade da, wo wir mit den Grenzen unseres Lebens konfrontiert sind, ist der Boden bereitet, dass wir ablassen vom Blick auf uns und uns von Gott mit seiner Liebe beschenken lassen.

An die Gemeinde in Rom schreibt Paulus: „Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an. Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Röm 8,26+ 28). Und: „Was kann uns trennen von der Liebe Gottes? Ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8, 38 f.).

Amen.

Harald Fischer