Mk 9,2-8, Lesung: Röm 8,12-17


Wo gehören Sie hin? Wo sind Sie zu Hause? Finden Sie, liebe Schwestern und Brüder, dass Sie einen guten Platz haben, einen guten Platz in Ihrem Leben, in dieser Welt, im Herzen Ihrer Lieben, in Ihrem eigenen Herzen?

Das gehört ja zu unser aller tiefsten Sehnsucht: einen Platz zu finden, an dem ich mich sicher und geborgen weiß; Menschen, die mich erwarten und aufnehmen. Die moderne Bindungstheorie, ein Zweig der psychoanalytischen Säuglingsforschung, besagt mit starken Argumenten, dass Säuglinge dann in der Lage sind, eine sichere emotionale Bindung einzugehen, wenn die Mutter oder der Vater ihrem Kind in einer feinfühligen, zugewandten und zuverlässig haltenden Weise begegnen. Das Kind, mit dieser Erfahrung ausgestattet, wird seine Eltern bei Bedrohung und Gefahr als „sicheren Hort“ und mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsuchen. Und umgekehrt: Werden die Eltern eher mit Zurückweisung, mit emotionaler Kälte und Distanz auf die Bindungsbedürfnisse ihres Säuglings reagieren, so besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind mit einer unsicher vermeidenden Bindungshaltung reagiert. Das Zuhause bietet dann keinen Ort der Sicherheit und Zuflucht, sondern eine Quelle von Angst und Schrecken. Ja mehr noch: Nachgewiesenermaßen kann ein Mensch mit diesen traumatischen Ursprungserfahrungen auch nur äußerst schwer in sich selbst ein Zuhause finden; er wird immer wieder mit starken Fremdheitsgefühlen sich selbst gegenüber konfrontiert sein, die Angst und das Gefühl der inneren Leere hervorrufen.

In vielen biblischen Texten geht es um dieses Urthema unseres Menschseins: Wo ist der Platz, wo ich erwünscht bin, erwartet, sicher? Drei Hinweise, nur kurz erinnert:

Die Bibel zeichnet am Beginn all ihrer Erzählungen das Bild vom Paradies: Ein sicherer Ort, von Gott geschaffen für den Menschen; Ort unverstellter, natürlicher, vertrauensvoller Beziehungen der Menschen untereinander und mit ihrem Gott: Heimat eben, Mutterschoß, Nest. Unbeirrte Geborgenheit. Angstfreier Raum.

Und da ist Abraham: Er erhält die Aufforderung, seinen alten angestammten Platz zu verlassen; herauszutreten aus den alten Bindungen, vor allem aus den alten Glaubensvorstellungen; und den Ort aufzusuchen, der von Gott für ihn ausgesucht wurde, weil nur an diesem neuen Platz ein neues, größeres Leben, eine größere Zukunft erfahren werden kann – und das heißt: ein tieferer Sinn, eine tiefere Erfüllung, eine noch verlässlichere Geborgenheit. Wir kennen die Geschichte Abrahams: Er lässt sich auf dieses Wagnis ein, dieses verheißene neue Zuhause zu suchen.

Und da ist Petrus: Eines Tages, so haben wir eben gehört, macht er die Erfahrung, nach der er sich schon so lange gesehnt hat: Er erhält eine Ahnung davon, wo sein Freund und Meister wohnt! Und das heißt: wo sich Jesus beheimatet, wo er seine Geborgenheit findet, seine Zuflucht. Petrus versteht in diesem verdichteten Augenblick: Dieser Jesus kann sich ganz und gar der Gotteswirklichkeit anheimgeben; er kann ganz und gar dieses Urvertrauen aufbringen und sich ganz und gar an Gott binden: er öffnet sich rückhaltlos der Gotteswirklichkeit, die vermittelt: „Ich bin da. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst zu mir.“ Jesus kann sich das sagen lassen, kann sich das gesagt sein lassen, dass er „der geliebte Sohn“ ist, und diese Zu-sage in sich aufnehmen, zu seiner eigenen, inneren Gewissheit und inneren Wirklichkeit werden lassen. Das meinen wir übrigens mit dem missverständlichen Wort „Verklärung“: Nicht dass Jesus auf magische Weise verwandelt worden wäre; nein, das Bild von der Verklärung will zeigen, was es in einem Menschen verändert, was in ihm neu und heil wird, also, was sich für ihn „klärt“, wenn er sich radikal dieser Zusage Gottes verschreibt: „Ich bin da.“

Übrigens: Die Eucharistie bringt gar nichts anderes zum Ausdruck als diesen letzten, totalen Bindungsmut Jesu an seinen Gott! Wir beten ja gleich gemeinsam: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Damit meinen wir: Jesus hält dieses Vertrauen bis in seinen Tod – deshalb können wir diesen schrecklichen Tod auch verkünden; und Gott hält seine Bindung an diesen Jesus über seinen Tod hinaus – deshalb preisen wir diese letzte, totale Treue Gottes als „Auferstehung Jesu“; und wir werden solange nicht müde, beides zu verkünden und zu preisen, „bis er wiederkommt“.

Liebe Gemeinde, das Gedenken an unsere geliebten Toten führt uns heute hier zusammen. Also die Erinnerung an unsere Verstorbenen, auch die Trauer um ihren Verlust. Die Frage ist: Was trägt denn jetzt noch, welche Bindung erweist sich jetzt noch als verlässlich? Wir nach Vertrauen und Glauben suchenden Menschen tragen diese Fragen an den Ort, an dem Jesus selbst seinen Tod und zugleich den alles tragenden Grund über seinen Tod hinaus erfahren hat. Nichts anderes will ja die Eucharistie sein: der Vorgeschmack auf das, „was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat“ – und was dennoch da ist, und trägt, und hält, und wirkt: eben die Gotteswirklichkeit selbst mitten unter uns, in den einfachen Zeichen von Brot und Wein.

Wo gehören wir hin? Wo ist unser Platz? Hier ist unser Platz; in diesem Geschehen, in dem sich die Todesangst Jesu verwandelt in das Wagnis des völligen Vertrauens in die unverbrüchliche Treue Gottes, sind wir in unserer Trauer, in unserer Angst, mit unseren Fragen aufgehoben; und dies im eigentlichen Sinn des Wortes!

Amen.

Otmar Leibold