Erlöst durch seinen Tod
Ansprache Gottesdienst in Kassel am 04.03.2007 - Anneliese Hecht, Bibelwerk
 
 
Liebe Mitchristen, liebe Mitchristinnen!
  

1. Die Kreuzdarstellung als religiöses Symbol

Vor einigen Jahren gab es einen heftigen Streit, ob in den Klassenzimmern der Schulen ein Kreuz hängen darf oder gar soll, wie es manche christliche Politiker in Bayern forderten. Kirchen und christliche Feiern sind ohne Kreuz für die meisten Christen nicht denkbar. Das Kreuz ist das christliche Symbol, der Schlüssel zum Christentum, im Westen noch mehr als im Osten. 
 
Für mich selbst als Katholikin ist die Darstellung eines sich vor Schmerz verkrümmenden Jesus am Kreuz so selbstverständlich, dass ich mir meist gar nichts mehr dabei denke. Ein Beispiel:
 
Ich war im Kardinal-Döpfner-Haus in Freising mit einer anderen Bildungsreferentin im großen Speisesaal beim Essen. Uns war der Platz unter dem riesigen Kreuz mit Corpus zugewiesen worden. Da sagte sie: „Ich kann da nicht essen mit dem Blick auf dieses grausame Geschehen. Da vergeht mir jeglicher Appetit.“ Da dachte ich mir: „Und wie oft habe ich da schon gesessen und es gar nicht wirklich wahrgenommen. Es ist so gewohnt, so häufig als Bild da, dass ich ganz abgestumpft bin.“ Dass da ein Gehenkter hängt, eine brutale Darstellung, das muss ich mir erst wieder bewusst machen.“ Oft denke ich, wenn ich Kirchen betrete: Was nehmen Menschen wahr von unserem christlichen Glauben, wenn sie hereinkommen und nicht christlich traditionell leben? Eine Verherrlichung des Leidens. Kinder drücken es manchmal unbefangen aus: „Wenn Christus das für uns erlitten haben soll, dann will ich das nicht. Für mich soll er das nicht tun.“
 
Daniel Jonah Goldhagen schrieb 2004 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ unter dem Titel „Das missbrauchte Kreuz“. Warum schauen Christen den Film von Mel Gibson „Die Passion Christi“ an, der eine Orgie von Gewalt und Leiden und Blut ist? Und was hat das für Auswirkungen auf sie? Er rät zu prüfen, ob nicht unter der Hand die vielen Bilder vom gekreuzigten Jesus uns dazu verführen, Gewalt und Schrecken und Leiden von Menschen durch das heilsame Leiden Jesu umzudeuten oder es durch unsere kunstvollen Tod-Jesus-Darstellungen ästhetisch und künstlerisch aus dem Abstand zu betrachten mit der Folge, dass wir uns daran gar nicht mehr stören und uns vielleicht nicht mehr so für die Beseitigung von Gewalt einzusetzen.
 
Wie immer wir auf die Fragen Goldhagens eine Antwort geben würden - eines ist jedenfalls sicher: In der Regel haben wir Christen heute einen völlig andern Umgang mit der Vorstellung, dass Jesus uns bzw. die Welt durch sein Leiden und Sterben am Kreuz erlöst hat als die Urchristen. Und unsere Deutung des Todes Jesu hat sich völlig verschoben.

2. Unterschiedliche Akzente im Verständnis des Kreuzestodes Jesu heute und am Anfang von Kirche

Für uns ist es heute selbstverständlich im Christentum: Erlösung geschieht durch das Kreuz. Der Großteil der Christen denkt sogar: Wie kann Erlösung geschehen ohne das Kreuz? Weil der Gekreuzigte so leidet und im Leiden die Menschen so liebt, muss er der Messias sein.
 
Die Christen der Urkirche haben genau andersherum gedacht. Ihr Problem war: Wie kann ein Gekreuzigter der Messias sein? Den Tod Jesu konnten sie zunächst von der Schrift her nur als Verfluchung verstehen, denn in Dtn 21,22 lasen sie: Verflucht ist, wer am Pfahl hängt.“ 
 
Die Basis des christlichen Glaubens war für Paulus und andere Christen die Auferstehung. Der Glaube, dass Jesus auferweckt wurde, ist für ihn die Grundlage des Christentums, nicht das Kreuz. Zum Glauben gekommen ist er wie die anderen durch eine Erfahrung mit dem Auferstandenen. Der Auferstandene lebt durch seinen Geist in den Gläubigen. Und nur durch diese Heilstat Gottes an Jesus kommen die Jünger und Jüngerinnen zu der Einsicht, dass Jesu ganzes Leben und auch sein Tod heilswirksam waren. Und beim Verstehen half es ihnen, seinen Tod in Bildern und Deutemodellen der Schrift (unserem AT) und aus dem Umfeld (kultische und nichtkultische Vorstellungen) zu reflektieren. Das will ich mit Ihnen gleich noch eigens betrachten. Zuvor aber noch einige andere Unterschiede im Verständnis des Todes Jesu von heute und damals.
 
In vielen Liedern und Gebeten verstehen wir die Beziehung zum Gekreuzigten individuell: er ist für mich gestorben (O Haupt voll Blut und Wunden: Nur ich hab das verschuldet, was du…). Im Neuen Testament ist es immer „für uns“, eine Gemeinschaft, ein Volk. „Für unsere Sünden“ meint also nicht zuerst mein eigenes Sündenkonto; damals ist klar: alle teilen ein Schicksal.
 
Ein weiteres: Unser heutiger Hauptakzent der Erlösung ist das Kreuz, damals  war es der ganze Christus, sein Leben, sein Tod und vor allem  seine Auferweckung. Beispiel: Lukas beginnt in 9,51 den zweiten großen Hauptteil seines Evangeliums, wo Jesus den Weg nach Jerusalem einschlägt und noch lange Zeit unterwegs ist: „Als sich die Tage seiner Hinaufnahme in den Himmel erfüllen sollten...“ und erwähnt nichts von seinem Tod.
 
Viele Christen denken heute außerdem, dass Gott wollte und forderte, dass Jesus so einen schrecklichen Tod erleiden musste, um für unsere Sünden Sühne zu leisten. Das verkünden wir mit ernsten, besinnlichen Mienen. Urchristen bekannten dagegen oft frohgemut und mit Dankbarkeit (z.B. im Epheserhymnus), was Gott für sie tat in seiner überschwänglichen Liebe, unter anderem auch im Leiden Jesu. Die Perspektive heute ist also, was um Gottes Willen seitens des Menschen zu leisten ist, damals war die Perspektive, was Gott um des Menschen willen tut. Wie viele heutige Literatur beschäftigt sich mit Äußerem, mit dem Kreuzigungsvorgang, mit der Schwere und Art des Leidens Jesu. Im Neuen Testament sind die Passionsgeschichten der Evangelien äußerst sparsam damit. Ihnen ist viel wichtiger das Innere: das Alleinsein Jesu, seine Haltung zu den Menschen um ihn, (z.B. die Vergebung für die Schmähenden) und seine Gottesbeziehung (z.B. das Beten des Psalms 22).
 
Noch ein letzter Unterschied: Bei uns ist die Deutung des Todes als Sühnetod das zentrale Deutemodell geworden, Jesu Sterben zu verstehen. „Für unsere Sünden“ hören wir in jeder Eucharistiefeier in den Einsetzungsworten. In der Urkirche war dieses dagegen nur ein Deutemodell unter vielen, das zudem noch äußerst selten verwendet wurde.
 
Betrachten wir nun in einem großen Bogen neutestamentliche Zeugnisse, die Jesu Tod als heilswirksam bzw. erlösend verstehen, um wieder dafür spürsam zu werden, was sie uns verkündigen wollten. Eine erste Perspektive: Gibt es Hinweise oder Deutungen, die Jesus selbst im Blick auf seinen Tod schon zu Lebzeiten gegeben hat?

3. Jesu eigene Deutung seines Todes

Jesus hat das Kreuz nicht als Heilsweg verkündet, sondern den Tod erlitten, als die Frohbotschaft missdeutet und abgelehnt wurde. Das Kreuz ist das Ende eines Weges der mit großer Begeisterung begann und dann zunehmend auf Ablehnung stieß.
 
Die Worte von der Kreuzesnachfolge und die Leidensaussagen sind übrigens nachösterlich und sollen den Jüngern und Jüngerinnen nach Ostern helfen, den eigenen Weg der Nachfolge zu leben.
 
Dass aber Jesus sein letztes Mahl mit den Jüngern im Bewusstsein seines nahen Todes gehalten hat, kann auch historisch als gesichert gelten. Damit erhält es den Charakter eines Abschiedsmahls, eines Testaments. Es ist somit gleichsam die Zusammenfassung und Verdichtung seines ganzen Lebens, das ein ,,Dasein für andere” war. In Worten und Gesten deutet Jesus sein Leben und Werk.
 
Dem eigentlichen Mahl geht bei Lukas eine ,,Todesprophetie” voraus (22,16-18), die bei Markus am Schluss der Mahlerzählung steht (14,25): „Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinken werde im Reich Gottes”. Nach dieser Prophetie, die vermutlich auf den historischen Jesus zurückgeht, geht Jesus mit dem Bewusstsein in den Tod, dass sein Sterben nicht einfach das Ende seines Lebens und seiner Sendung ist. In einer Haltung absoluten Vertrauens legt Jesus sein Leben und Sterben ganz in die Verfügung des Vaters (vgl. Mk 14,36). Wie sein ganzes Leben ist somit auch sein Sterben mit der Herrschaft Gottes unauflöslich verbunden. Ob Jesus darüber hinaus seinem Sterben eine erklärende Deutung und so einen theologischen Sinn zu geben versuchte oder ob er im Vertrauen auf seinen Vater gerade darauf verzichtete, ist umstritten.
 
Die Abendmahlsworte (die wir Einsetzungsworte nennen) überliefern uns nicht Jesu eigene Wortlaut. Sie sind vielmehr deutlich geprägt von nachösterlicher Glaubensreflexion sowie vor allem durch die liturgische Feier der christlichen Gemeinde. Die überlieferten vier Fassungen der Evangelien und des Paulus, stimmen auch im Wortlaut nicht völlig über-ein. Vier Elemente sind aber allen Fassungen gemeinsam in 1 Kor 11,23-26, der ältesten Überlieferung. Sie sind  dort besonders deutlich zu sehen, weil jeder Akzent ein Vers ist.
 
Erstens:
Es ist die Nacht der Auslieferung und des Todes. So beginnt die Tradition. Jesu Tun macht sich also in keiner Weise abhängig davon, ob jemand die Zuwendung verdient. Er gibt sich auch dem, der ihn ausliefert in den Tod (V 23). Daran erinnern wir uns bei jeder Eucharistiefeier und bei jedem Abendmahl. Ich frage mich, wie angesichts dessen heute getaufte Christen vom Mahl ausgeschlossen werden, nur weil sie eine andere Konfession haben. Dabei sind sie gültige Glieder des Leibes Christi, denn wir anerkennen ja bei allen christlichen Konfessionen die Taufe. Welcher Kontrast! Da der Großmut Jesu, hier die Verweigerung! Und dabei „verkünden“ wir als Christen, wann immer wir zum Herrenmahl zusammenkommen, „seinen (heilsamen) Tod“ (1 Kor 11,26). Mi diesen Worten endet übrigens die früheste Überlieferung. Der Tod Jesu bildet also den Rahmen und das zentrale Motiv der Feier.
 
Zweitens:
Jesus gibt sich im gebrochenen Brot und deutet diese Handlung selbst: “für euch“. Im Mahl und im Tod stiftet Jesus Beziehung, schenkt er Zuneigung, denn. „Das ist mein Leib“, griechisch „soma“ bedeutet die ganze Person. „Das“ meint im Griechischen das Brotbrechen, also nicht das Brot selbst, denn das Brot ist im Griechischen männlich. Das Brechen des Brotes versinnbildlicht also wieder sein Leben, das im Tod gebrochen wird. Durch das Essen des Brotes gibt er an seiner Lebenshingabe und an seinem Tod Anteil. Das Brot aber dient dem Leben der Jünger/innen. Es findet sich keine Verklärung des Todes Jesu.
 
Drittens:
Im Kelchwort „Dies ist der Becher des neuen Bundes in meinem Blut“ ist der Bund Gottes mit den Menschen gegenwärtig. Es ist der Bund, den Gott mit dem Volk Israel am Sinai schloss als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft. Das drückt das Blut aus, das als Sitz des Lebens galt und nach Ex 24 an den Altar als Symbol Gottes und auf das Volk gesprengt wurde. Der Bund ist aber auch der Neue Bund aus Jer 31,31, der in die Herzen der Israeliten geschrieben ist als innerste Bindung Gottes an den Menschen. In beiden Heilsereignissen erinnern die Kelchwortüberlieferungen an Jesu Blut. Seinem Dasein für andere bis in den gewaltsamen Tod, indem er sich den Jüngern und Jüngerinnen schenkt, ist zugleich ein Zeichen seines tiefsten Verbundenseins, das keine Grenzen kennt.
Beides- Leib und Blut - aber sind nur Zeichen der Hingabe für den oder die, die es aus einer tiefen Verbundenheit heraus frei annehmen, sie werden Menschen nicht übergestülpt.
 
Viertens:
Mit dem letzten Abendmahl Jesu verbindet sich immer ein endzeitlicher Ausblick auf Gottes endgültiges Heil. „Bis er kommt“ feiern die Jünger und Jüngerinnen sein Gedächtnismahl. Alles, was jetzt gefeiert wird im Mahl, ist erst ein Vorgeschmack auf Gottes endgültiges Heil.
 
Zusammenfassend können wir zum letzten Mahl Jesu sagen:
Die Erzählungen überliefern uns nicht Jesu eigene Worte. Wir können aber davon ausgehen, dass sie Jesu Vermächtnis angemessen ausdeuten: Worte und Gesten deuten jetzt Brot und Wein als Zeichen der Lebenshingabe Jesu für die Vielen, d.h. für das ganze Gottesvolk. Das gewaltsame Sterben Jesu wird damit umgedeutet; ihm wird ein neuer Sinn gegeben: Was ihm aufgezwungen wurde, wird nun als freie Lebenshingabe verstanden. Es ist, wie wenn Jesus sagen würde: „Ich erfahre jetzt zwar tödliche Ablehnung. Aber ich lass mich dadurch nicht zum Feind derer machen, die mich beseitigen wollen. Und ich bringe dies dadurch zum Ausdruck, dass ich mein gewaltsames Sterben als freie Hingabe lebe, auch und gerade für meine Gegner und sogar Henker. Sie sollen mein Sterben als Zeichen meiner bleibenden Versöhnungsbereitschaft verstehen. Durch ihre Ablehnung hindurch bleibt ihnen der Weg zur Versöhnung und zum versöhnten Leben mit Gott offen.“ 
 
Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass Jesus nie das Leiden gesucht hat. Das Ringen mit dem Vater im Garten Getsemani nach dem Mahl macht das überdeutlich. Auch am Kreuz selbst sehen wir, dass Jesus den Tod als Heil gewiss nicht sucht. Er betet nach Markus mit seinen letzten verstehbaren Worten den Anfang des Psalms 22, der sich in das Nichtmehrverstehen Gottes hineinbetet: „Mein Gott, mein Gott, wozu (Frage nach dem Sinn!) hast  du mich verlassen?“ - Bewegend muss die Haltung Jesu gewesen sein, wenn sich ein Hauptmann, der die Kreuzigung durchführen lässt, bewegt wird.

4. Deutungen des Todes Jesu in der Urkirche, in den neutestamentlichen Gemeinden

4.1. Das Ärgernis des gekreuzigten Messias
Zunächst war da am Anfang - wie schon kurz erwähnt  - ein Grundproblem:
Für das Judentum war ein gekreuzigter Messias undenkbar. An einen gekreuzigten Messias zu glauben, war, wie Paulus schreibt, ,,für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit" (1 Kor 1,23). Für Juden war ein Gekreuzigter von ihrem Vorverständnis her zunächst ein von Gott Verlassener oder gar Bestrafter. Denn so lasen sie in Dtn 21,22f: ,,Ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter." Verflucht ist, wer am Schandpfahl als Hingerichteter hängt. Wie kann ein Gekreuzigter der Messias sein? Das ist deshalb nach Ostern die zentrale Frage.
Das Kreuzesgeschehen war - zumindest für die männlichen Jünger - zunächst etwas, vor dem man nur weglaufen konnte. Mit dem Messias hatte das für sie gar nichts zu tun.
Die Emmausgeschichte (Lk 24), zeigt den Weg, den Prozess, den die Jesusjünger am Anfang in ihrem Kreuzesverständnis gehen mussten, in Schritten:
(1)   Weg von verherrlichenden Messiasvorstellungen („er war mächtig in Wort und Tat“), die mit dem Kreuzestod zerbrachen,
(2)   und ermutigt durch die Erfahrung des Auferstandenen und in seinem Geiste die Enttäuschungen aussprechen können
(3)   konnten sie seinen Tod im Licht der Schrift neu verstehen. Sie lasen die vielen Schriftstellen, in denen Menschen an Gewalt gescheitert waren, und wo Gott dennoch Heil aus dem Unheil wirkte.
(4)   Sie verstanden beim Brotbrechen und Mahlfeiern neu, dass Jesu Dasein für andere in seinem Leben und seinem Tod ein Ganzes sind und zusammengehören. Seinen Tod verstanden sie nun als Vollendung seiner Hingabe und nicht mehr als Scheitern.
So konnten sie zurück an den Ort des Kreuzes, nach Jerusalem. Mit der Erfahrung des Auferstandenen, der jetzt in ihnen lebt, sehen sie auch seinen Tod in einem neuen Licht. Es zeigt sich: Nur im Licht von Ostern auf das Kreuz zu schauen, lässt sie wie auch die anderen Jünger, die ihnen mit eigenen Ostererfahrungen entgegenkommen, nicht davonlaufen.
Bedenken wir diesen Prozess noch etwas genauer:
Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn, nach dem Warum des Todes Jesu musste in zwei Richtungen gegeben werden, nach innen und nach außen. Zunächst müssen die Jünger selbst mit diesem Ende Jesu (und das heißt auch mit der Zerstörung ihrer Hoffnungen) fertig werden. Um weiter an Jesus als den Messias glauben zu können, mussten sie in diesem Tod Jesu einen gottgewollten Sinn erkennen können. Dann aber mussten sie auch in der Auseinandersetzung mit Nichtchristen, vor allem mit ihren jüdischen Glaubensbrüdern und -schwestern, Antwort geben können. Daher verfolgen Passionserzählungen auch ein apologetisch-missionarisches Ziel. Insofern die ersten Christen Juden waren, brauchte sich die Argumentation nicht zu unterscheiden: Für beide, für die Jünger und für die Gegner im Judentum, konnte die Antwort nur aus der Schrift (dem AT) kommen. Nur wenn der Tod Jesu schriftgemäß war, d.h. im Einklang mit dem bisher geoffenbarten Willen Gottes stand, war es möglich, ihn im Glauben anzunehmen.
 
4.2. Der Rückgriff auf die Heilige Schrift - ein neues Schriftverständnis
Vom Geschick Jesu her, von seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung erhielten viele Texte der Bibel einen neuen Sinn. Man las sie jetzt anders als vorher; und Texte, die vorher keineswegs zu den bedeutsamsten des AT gehörten, erhielten jetzt ein ganz anderes Gewicht und eine neue, tiefere Bedeutung. Man las sie jetzt messianisch, bzw. christologisch. Es waren vor allem Texte aus den Psalmen (z. B. Ps 22; 69), aber auch aus Deuterojesaja (vor allem die Gottesknechtslieder und insbesondere  das 4. Gottesknechtslied Jes 52, 13-53,12) und dem Buch der Weisheit (Weish 2,12-20; 5,1-7), in denen man eine Antwort fand. Jetzt erschienen sie wie Vorverweise auf das Geschick Jesu. Mit ihnen konnte man zeigen, dass das Geschehen mit Jesus nicht im Widerspruch zu seiner Auserwählung durch Gott stand. 
Es waren vor allem zwei Vorstellungen bzw. Modelle, die sich zur Deutung des Leidens und Sterbens Jesu aus der Schrift anboten. Das eine war die Vorstellung vom ,,gewaltsamen Geschick der Propheten". In diese Deutung wird Jesus als der letzte endzeitliche Prophet oder Gesandte der Weisheit Gottes verstanden. Jesus teilt das Geschick vieler Propheten, die auf Ablehnung stießen und getötet wurden (vgl. Lk 11,47-52; auch Lk 4,16-30). In Lk 13,34 wird die Ablehnung der Propheten ausdrücklich auf Jesus bezogen: ,,Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln ...; aber ihr habt nicht gewollt." Mit dem  Satz, ihr werdet mich nicht mehr sehen" im folgenden Vers 35 ist dann deutlich auf den Tod Jesu in Jerusalem angespielt. 
Das zweite Modell ist das vom unschuldig leidenden Gerechten und seiner Erhöhung durch Gott. Ein ungerechterweise verfolgter und darum unschuldig leidender Gerechter wird wider alles Erwarten nach seinem Leiden und Tod von Gott gerechtfertigt und erhöht. Diese Vorstellung liegt (gleichsam als Modell oder Schema) in Ps 22, in Jes 52,13-53,12 und Weish 2,10-20 und 5,1-12 vor. Diese Texte zeigen, dass Verfolgung, Leiden und gewaltsamer Tod nicht Zeichen der Verwerfung durch Gott sind. Vielmehr wird solches Geschick geradezu zum Kennzeichen der Auserwählung. Gott steht also auf der Seite dieses schmählich hingerichteten Jesus. Jesus war mit seiner Botschaft im Recht. Seine Sicht Gottes und von der heilvollen Nähe Gottes ist auch im Tod nicht am Ende. Gott hält ihm die Treue. Er, der sich mit den an den Rand Gedrängten solidarisierte und so die Güte Gottes erfahren ließ, erfuhr selbst die Solidarität Gottes. Gegen die tödliche Gewalt der Mächtigen solidarisiert sich Gott mit dem gewaltlosen Jesus.
Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen komme ich zu konkreten Zeugnissen
 
4.3 Erste Bekenntnisformeln
Die ältesten Zeugnisse von Jesu Sterben finden wir in den Briefen des Paulus, der selbst wiederum auf alte Bekenntnisformeln zurückgreift. Es handelt sich dabei um die sog ,,Sterbeformeln" und ,,Hingabeformeln". In ihnen wird nicht nur das Sterben Jesu ausgesagt, sondern die Heilsbedeutung des Todes Jesu, sein Sterben ,,für uns". Dieses Bekenntnis findet sich in der Form ,,Christus ist für uns gestorben" (vgl. 1 Thess 5,10; 1 Kor 8,11; 15,3; 2 Kor 5,14f; Röm 5,6.8; 14,15) oder ,,Gott hat seinen Sohn für uns dahingegeben" bzw. Christus ,,hat sich selbst für uns hingegeben" (vgl. Röm 8,32; Gal 2,20; Eph 5,2.25).
„Hingabe“ überhaupt ist eine sehr häufige Deutung. Darin ist die Beziehungsebene von Mensch zu Mensch gegenwärtig.
Das Bekenntnis zur Heilsbedeutung des Todes Jesu steht dabei nie isoliert, sondern wird immer im Zusammenhang mit der Auferstehung gesehen. Beide Aspekte sind in 1 Kor 15,3-8 in einem kurzen Glaubensbekenntnis kombiniert:
“Christus ist gestorben / für unsere Sünden / gemäß der Schrift,
 4und ist begraben worden. / 
 Er ist auferweckt worden, / am dritten Tag / gemäß der Schrift,
 5und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. 6Danach... 
Es werden noch weitere Zeugen genannt, unter ihnen nennt sich auch Paulus selbst.
 
4.4. Jesu Tod als Sühne gedeutet
Die Vorstellungen von der Versöhnung und von den Riten des Versöhnungstages dienen im NT auch als ein Vorstellungsmodell bei der Deutung des Todes Jesu. Sühne soll die Reparatur (taqqanah) der durch die Sünde zerstörten Beziehungen zum Mitmenschen, zu sich selbst und zu Gott bewirken. In ihr geschieht durch einen Gnadenerweis Auslösung des verwirkten Lebens aus der Todesverstricktheit. In einer Blutbesprengung schenkt Gott den Sündern, die dem Tod verfallen sind, neues Leben. Im Tieropfer ermächtigt Gott den Menschen, für sein verwirktes Leben ein anderes Leben - das des Tieres zu töten nach dem Grundsatz Leben für Leben; Blut für Blut (Ex 21,23).
Auf diesem Deutehintergrund schreibt Paulus z.B. in Röm 3,25a: „Ihn hat Gott als Sühnort in seinem Blut herausgestellt, wirksam durch Glauben.“ Gemeint ist mit Sühneort die goldene Deckplatte der Bundeslade im Allerheiligsten des Tempels. Sie wird am Versöhnungstag mit dem Blut eines Opfertiers besprengt. Blut gilt als Sitz des Lebens. Im Blutritus schenkt Gott seinem Volk, das Leben geschädigt hat und in dem Maß selbst sein Leben verwirkt hat, neues Leben, allein aus seiner Verbundenheit heraus. Neu ist in der Argumentation des Paulus: Jesus Christus als Person wird in seiner Selbsthingabe an Gott zum Sühnemittel Gottes, keine geopferten Tiere mehr, die der Mensch für sich benutzt. 
Das Heil wirkt aber nicht automatisch. Es braucht die gläubige Annahme. 
Noch viel stärker als Paulus bezieht sich der spätere Hebräerbrief auf die Sühneriten des Jom Kippur. Indem Jesus sich selbst hingab, sind alle Opferhandlungen, die vom Hohenpriester stellvertretend für den schuldigen Menschen getätigt werden, überflüssig geworden. Hören wir einige Sätze aus dem Gedankengang: „Christus aber ist gekommen als Hoherpriester der künftigen Güter... Er ist ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt. Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh die Unreinen, die damit besprengt werden, so heiligt, dass sie leiblich rein werden, wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst kraft ewigen Geistes Gott als makelloses Opfer dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen, damit wir dem lebendigen Gott dienen“ (Hebr 9,11-14). Wenig später wird der Gedankengang so fortgeführt: Da Jesus so lebt, dass der Bund Gottes in sein Herz geschrieben ist, geschieht die beim Propheten Jeremia angekündigte Sündenvergebung. „Wo aber die Sünden vergeben sind, da gibt es keine Sühnopfer mehr.“ (Hebr 10,18). Zur Art der Argumentation ist zu sagen, dass der Verfasser mit der Methode der sog. „typologischen Schriftauslegung“ argumentiert, die von der griechischen Philosophie beeinflusst ist. Es wird ein Vergleich gesucht: Wo gibt es im Umfeld, eine Parallele, einen Grundtyp für das Gemeinte. Die Aussage selbst bietet dann das überbietende Gegenbild. Die Argumentation geht hier so: Was entspricht sich beim Handeln des Hohenpriesters und Jesu, was ist andersartig, worin überbietet Jesus in seinem Tun das Bisherige? Solch ein Vergleich ist nicht ungefährlich. So gerät nämlich Jesus, der zeitlebens nie Priester war und sein wollte und mit einer Opfertheologie nichts zu tun hatte, auf einmal in eine Opferpriestertheologie hinein mit erheblichen Folgen in der Kirchengeschichte. (Dabei kündet der Hebräerbrief das Ende einer Opfertheologie an.).
Ich fasse die Sühnebedeutung des Todes Jesu im NT zusammen: Der Tod bleibt zwar eine Untat von Menschen; Gott gibt dem vergossenen Blut Jesu aber einen neuen Sinn, indem er es den Menschen als Sühne anbietet, als sakramentales Zeichen seiner Versöhnungsbereitschaft, als Möglichkeit der Befreiung von der giftigen Wirkmacht der Sünde und so als Eröffnung neuer Lebensmöglichkeit. Der Tod Jesu ist dann nicht die Ursache unseres Heils, in dem Sinn, dass dieses Lebensopfer notwendig war, damit Gott wieder versöhnt ist mit der schuldigen Menschheit. Vielmehr wird Jesu Tod als das wirksame Zeichen (das Ursakrament!) der uns befreienden Liebe Gottes gedeutet; diese Liebe ist die eigentliche Ursache unseres Heils ist. Wir brauchen zur Versöhnung dieses Zeichen „nur” anzunehmen und innerlich nachzuvollziehen. 
Bleibt noch festzuhalten, dass die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer ein Verstehensmodell unter vielen anderen im NT ist. Uns heute, die wir nicht mehr in der Welt des alttestamentlichen Kults zu Hause sind, ist dieses Modell sehr fremd geworden. Es erzeugt vielfach eher Missverständnisse als dass es hilft. Wir sollten deshalb überlegen, wie wir die Hingabe Jesu bis in den Tod neu formulieren.

5. Drei Akzente, die vom NT her für ein heutiges Sühnetodverständnis wichtig sind

5.1. Gott versöhnt mit sich. Er braucht nicht die Sühne, sondern der Mensch
Alle Vorstellungen der Art, dass Gott ein Opfer fordert oder braucht, um seinen Zorn zu besänftigen oder gar seine gekränkte Ehre wiederherzustellen..., sind abzulehnen. Gott muss nicht erst umgestimmt werden; er liebte uns bzw. „die Welt“ schon, als wir noch Sünder waren und uns ihm noch nicht zuwandten: 
Gott spricht von sich aus den Gottlosen gerecht (Röm 4,5). Und „Jesus macht nicht erst aus Gott die Liebe, er geht vom Gott der Liebe aus“ (Bachl, Der schwierige Jesus, 91). Deshalb hat er - aus Liebe und Erbarmen - seinen Sohn gesandt, der mit uns solidarisch war. Deshalb heißt es in 2 Kor 5,17-20: 
„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles (kommt) von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns das Wort der Versöhnung aufgerichtet. Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Der Text zeigt in aller Deutlichkeit, dass Gott nicht Jesus benutzt, sondern sich in ihm und durch ihn gibt und Versöhnung schenkt - als neues Leben.
  
5.2. Wir sollen den Tod Jesu als Teil seines Daseins für andere in seinem ganzen Leben verstehen
Nicht primär der Tod Jesu, sondern seine Verkündigung des Reiches Gottes in Wort und Tat ist erlösend, befreiend. Menschen werden aus Angst und Entfremdung herausgelöst durch die Botschaft von dem bedingungslos liebenden und sich erbarmenden Gott. Es wird ein Vergleich gesucht: Wo gibt es im Umfeld, eine Parallele, einen Grundtyp für das Gemeinte. Die Aussage selbst bietet dann das überbietende Gegenbild. Sie werden geheilt, wertgeschätzt, von draußen hereingeholt ins Gottesvolk… Die Botschaft und Praxis Jesu eröffnet eine neue und heilvolle Zukunft.
Jesu Tod kann eine erlösende Wirkung zugeschrieben werden, wenn Jesu Tod als Fortsetzung seines Lebens, seines Daseins für andere verstanden wird, als der letzte Dienst an den Seinen. Erlösend auch, weil Jesus selbst diesen Tod als letzte Konsequenz seines Lebens für andere verstanden und angenommen hat.
Das Johannesevangelium legt besonderen Wert darauf, dass Jesus seine Hingabe und Liebe als Dienst bis in den Tod in letzter Konsequenz lebt. So wie Jesus für die Menschen gelebt hat, so stirbt er auch für die Menschen. Es heißt da:
„Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zum Ende/zur Vollendung.“ (Joh 13,1)
Der Dienst Jesu an den Seinen - seine Zu-neigung bis in die äußerste Niedrigkeit hinein, symbolisiert in der Fußwaschung - wird ihnen eindringlich ans Herz gelegt: „Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann schuldet auch ihr einander, die Füße zu waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe. Amen, amen, ich sage euch: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt.“ (Joh 13,14-17).
 
5.3. Gott nimmt den Menschen bedingungslos an aus Liebe, mit und trotz Schuld
Da Gott voller Erbarmen ist und die Menschen bedingungslos annimmt, brauchen sie keine Angst mehr zu haben, sich selbst ihm hinzugeben als „lebendiges Opfer“, wie es im Römerbrief ausgedrückt wird (vgl. Röm 12,1; Eph 5,2). Hier hat der Begriff „Opfer“ einen anderen als den herkömmlichen Sinn. Das Opfer ist nun eine Geste des Sich-Ausstreckens nach dem, der es annimmt, der in ihm die Opfernden selbst an sich zieht - mit all der Schuld, in die sie sich verstrickt haben und die sie ‚fortzeugen’“ (wie es Jürgen Werbick ausdrückt).
Er nimmt sich zugleich der Ur-Angst des Menschen an, nicht angenommen, nicht geliebt, ein 'Nichts' zu sein oder anders gesagt "in letzter Instanz verneint zu sein (Werbick, Soteriologie 262). Aus dieser Angst kann den Menschen nur die Zusage einer bedingungslosen Liebe befreien, der er ebenso bedingungslos vertrauen kann. Genau dazu hat Jesus die Menschen aufgerufen, wenn er sie einlädt, umzukehren von ihrem Leistungs- und Opferdenken, von ihren falschen Vorstellungen von Gott und an die Frohe Botschaft vom bedingungslos liebenden Gott zu glauben.
Wenn wir diese Grundbedingungen verinnerlichen, vielleicht werden dann mit der Zeit auch unsere Kirchenausstattungen andere, nicht hauptsächlich geprägt von Kreuzen mit dem Gehenkten.
Schließen möchte ich mit einem Text aus dem Epheserbrief, der das, was ich mühsam zu sagen versuche, viel besser ausdrückt und dazu noch gut verständlich ist: 
„Wir taten, was unsere Selbstsucht uns zu tun hieß und wonach uns der Sinn stand... Aber Gott, der reich ist an Erbarmen, hat uns seine große Liebe zugewandt: uns, die wir tot waren in unseren Sünden, hat er mit Christus zusammen lebendig gemacht: durch Gnade ist euch das Heil zuteil geworden! Mit ihm zusammen hat er uns auferweckt und im Himmel einen Platz zugewiesen in Christus Jesus. So wollte er in den kommenden Weltzeiten den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade erweisen durch die Güte, die er uns in Christus Jesus zugewandt hat. Ja, durch die Gnade ist euch das Heil zuteil geworden durch den Glauben, nicht von euch aus - Gottes Geschenk ist es! Nicht aufgrund von Leistungen - niemand soll sich rühmen. Denn wir sind sein Werk, geschaffen durch Christus Jesus, um Gutes zu tun. Zu solchem Wandel hat Gott uns im Voraus tüchtig gemacht.“ (Eph 2,3-10).

Anneliese Hecht, Bibelwerk