Liebe Schwestern und Brüder in Christus, 

Vor einiger Zeit bekam ich von einer Freundin eine e-mail mit wunderschönen Bildern geschickt.  Es waren verschiedene Satellitenaufnahmen  an einem wolkenlosen Abend über Europa und Nordafrika. Auf einem Bild bricht von Osten her die Nacht herein und legt sich wie eine dunkle Decke sanft über die Länder. In Rom, Paris und Barcelona brennen bereits die elektrischen Lichter, die als kleine weiße Flecken auf der dunklen Fläche erscheinen, während Lissabon und London noch im hellen Sonnenlicht liegen. Die wenigen Zeilen, die den herrlichen Bildern beigefügt waren, erzählten von dem, was man vom Satelliten aus nicht sieht: von dem Landwirt, der gerade vom Feld zurückkommt, von der Mutter, die für ihre Kinder noch schnell vor Ladenschluss in die Apotheke läuft, von der Studentin, die sich auf ihr Rad schwingt, um die Abendvorlesung an der Uni zu besuchen. 
 
Als ich die überwältigende Schönheit dieser Bilder sah und die kurzen Texte dazu las, dachte ich spontan: „Was muss doch Gott seine Schöpfung lieben!“ Doch gleich darauf fragte ich mich: Ist das denn wirklich die Perspektive Gottes - so aus der Distanz? Sicher, Gott ist Urheber von jedem Moment echter Schönheit, auch von der Schönheit der Erde, wie sie aus der Distanz erscheint. Sie spricht von dem großen Sinnzusammenhang, in dem alles letztlich ruht und den wir eines Tages klar zu erkennen hoffen. Aber die Welt, die so friedlich in den Schoß der Nacht aufgenommen wird, ist eben nicht nur die Welt, in der Menschen zufrieden ihr Tagewerk beenden. Zur gleichen Zeit sitzt irgendwo in der Zone zwischen Tag und Nacht einsam ein Kind in seinem Zimmer mit einem schlechten Zeugnis in der Schultasche und wartet zitternd auf die Rückkehr der Eltern, an einem anderen Ort quält sich ein kranker Mensch mit seinen Schmerzen ab, einige Kilometer weiter hält ein Familienvater fassungslos ein Kündigungsschreiben in der Hand und fragt sich, wie er seine Familie nun ernähren soll - um nur einige wenige alltägliche Leiden zu nennen. 
 
Nein, Gott kann die Welt nicht nur aus der Distanz lieben. Er hat nicht nur Augen für die Schönheit seiner Werke, für den tiefen Sinnzusammenhang, der alles zusammenhält, unabhängig davon, ob wir ihn begreifen oder nicht. Er hat Augen und Ohren weit offen für alles, was uns betrifft, für jede Kleinigkeit, die uns freut, für das, was uns drückt, für das, was uns bedroht - kurz: für jede und jeden von uns. „Gott ist Liebe“, heißt es im ersten Johannesbrief, und Liebe ist konkret - so konkret wie Brot und Wein. Sie kann auf Dauer nicht aus der Distanz zuschauen, sie sucht die Nähe der geliebten Person, sie will teilnehmen an ihrem Leben, doch ohne die Person an sich zu fesseln. Wenn wir heute über die Eucharistie nachdenken, versuchen wir der Dynamik dieser Liebe Gottes ein wenig nachzuspüren, die in den Zeichen von Brot und Wein unsere Nähe sucht und uns in ihrer unendlichen Weite aufblühen lässt. Lassen Sie mich jedoch zuerst etwas ausholen, denn die Bewegung Gottes auf die Menschen zu, die in der Eucharistie ihren Höhepunkt findet, hat einen langen Weg zurückgelegt, der mit der Schöpfung beginnt.  
 
„Gott ist Liebe.“ Wie ein Kind, das jemanden mag, schlicht nach ein paar Stiften greift und der geliebten Person ein schönes buntes Bild malt, damit diese sich daran freuen kann, malte Gott seinen liebsten Geschöpfen, die Er bereits „im Petto“ trug, ein herrliches Bild seiner dreifaltigen Liebe, eine wunderbare Schöpfung, in der wir leben und uns entfalten sollten. „Groß bist du, und alle deine Werke künden deine Weisheit und Liebe“, heißt es im vierten eucharistischen Hochgebet. Das schönste Werk seiner Weisheit und Liebe aber sind wir selber. Als sein Abbild, wie die Bibel sagt, setzte Er uns in seinen „Garten“, der allerdings nicht nur schön, sondern auch voller Geheimnisse und Fragen war, voll von Unfertigem, Vorläufigem, Keimfhaften. Der Mensch betrat nicht ein vollgestopftes Spielzimmer, wo ihm alles fix und fertig zur Verfügung stand, oder ein Schlaraffenland, in dem jeder Wunsch gleich erfüllt wird, noch bevor er richtig entstehen kann. Nein, Gott stellte den Menschen auf einen Weg des Wachstums, begnadet mit dem Angebot seiner Freundschaft - und einer Menge Zutrauen. Der Mensch sollte in der quirligen Vielfalt der Schöpfung zusammen mit seinem Schöpfer Leben auf dieser Erde gestalten, immer wieder neue Saiten des Lebens entdecken, auf das je Größere und Lebendigere gespannt sein, das sich noch zeigen würde. Gott, der große Freund der Menschen, wollte seine Lieblinge noch überraschen können, wie es Liebende immer gern tun. Übrigens auch Kinder: Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn ein Kind Ihnen ein Geschenk bereitet und es noch sorgfältig verbirgt und Ihnen verbietet, in eine bestimmte Ecke seines Zimmers zu schauen, damit Ihre Spannung steigt bis zu dem Augenblick des Schenkens. Und Sie vertrauen darauf, dass das Kind Ihnen wirklich eine Freude machen will und Sie nicht vergessen wird.
 
Wir wissen alle: Freundschaft kann nur wachsen, wenn sich das Vertrauen als tiefe, ureigene Kraft des Herzens bewährt, wenn es auch durch Herausforderungen hindurch immer freier geschenkt wird. Ohne das Vertrauen und das Wachsen darin gäbe es auf Dauer keine Freundschaft, man würde bestenfalls naiv und stumpf aneinander hängen. Gott, der den Menschen bedingungslos liebte und ihn nicht als Marionette haben, sondern als ebenbildlichen Partner an seinem Leben teilnehmen lassen wollte, ließ also zu, dass sein liebstes Geschöpf durch das noch Ausstehende, das noch zu Schenkende, herausgefordert wurde und sein Vertrauen und seine Erwartung wachsen konnten. Und der Mensch spürte sehr genau die Frage, die sich ihm damit nun stellte und die sich Ihnen und mir heute stellt: „Soll ich den Weg des Vertrauens weitergehen oder soll ich lieber einen anderen Weg einschlagen und mir die Erfüllung selber sichern?“ Dahinter stand und steht die Frage: „Meint Gott es gut mit mir?“

Der Mensch hatte an dieser Kreuzung eine hervorragende Chance zu wachsen. Doch er kündigte Gott das Vertrauen, wie die Hl. Schrift uns in bewegenden Bildern erzählt. Er fixierte sich auf eine düstere Stimme, die sich um sein Herz schlang: „Gott meint es nicht gut mit dir.“ Sie kennen alle das Bild der Schlange im Paradies, die der Eva diese unheilvolle Botschaft zuflüstert. Der Mensch stieg aus dem lebendigen Urvertrauen zu seinem Schöpfer aus und versuchte, das Leben in die eigene Faust zu nehmen, selber wie Gott zu sein; nicht als ebenbildlicher Partner Gottes, wie Gott es erträumt hatte, sondern als Konkurrent. Er wollte selber festlegen, wie Leben auszusehen habe, bzw. über Gut und Böse bestimmen, wenn wir es biblisch ausdrücken. Er projizierte seine Machtgelüste und Ängste auf Gott, den er plötzlich für einen eifersüchtigen Tyrannen hielt, vor dem man am Besten davonlief, es sei denn, man schaffte es ihn zu besänftigen und sich damit als der Stärkere zu erweisen - wenn man ihn nicht gleich totschwieg. Die Bibel malt es uns eindrücklich in dem Bild von Adam und Eva aus, die sich nach dem Sündenfall ängstlich versteckten, dann im Bild von Kain, der Gott mit seinem Opfer vergeblich zu imponieren suchte und schließlich in dem Bild des Turmbaus von Babel, als die Menschen versuchten, Gott sozusagen aus ihrem Leben wegzuschaffen, was sie letztlich nur voneinander entfremdete.
 
Die Leben spendende Botschaft „Du bist bedingungslos geliebt - von der Liebe in Person“ konnte nicht mehr bei den Menschen ankommen, sie konnte nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben werden. Nicht weil Gott nicht mehr liebte, sondern weil der Mensch sich misstrauisch verschlossen hatte. Das einst so schöne Bild, das Gott seinem liebsten Geschöpf gemalt hatte, war von einem hässlichen Gekritzel übermalt worden, von einer düsteren Botschaft, die nun - wie in einer Kettenreaktion - von Generation zu Generation weitergegeben wurde und das Leben der Menschen folgenschwer belastete: „Du musst dir das Leben erleisten, du musst es dir gnadenlos erkämpfen, sonst versinkst du im Nichts. Benutz deine Ellenbogen, damit du ja nicht zu kurz kommst!“ Diese Botschaft ist nicht deswegen düster, weil Leistung an sich etwas Schlechtes wäre. Es liegt ja in Gottes Schöpfungsplan, dass wir unsere Kräfte gebrauchen und verantwortungsbewusst einsetzen. Aber der Mensch hatte seine Quelle verloren und damit auch sein Ziel. Er benutzte seine Kräfte nicht mehr aus freudiger Dankbarkeit heraus, nicht mehr in tiefem Engagement für das Mitwirken an Gottes Schöpfungsplan, sondern aus einer kaum eingestandenen existenziellen Verzweiflung heraus, aus der Gier nach einem Leben, das ihm doch zwischen den Fingern zerrann - oder er verweigerte sich gleich trotzig und döste gleichgültig vor sich hin. (Ich überzeichne bewusst.) Gott sei Dank blieb unter dem hässlichen Gekritzel in jedem Menschen noch eine Ahnung vom Paradies und eine tiefe Sehnsucht danach, die ebenso ihre Spuren hinterlassen haben. Aber das ursprüngliche Bild Gottes war eben nicht mehr klar. Es war in eine Art Konkurrenzkampf mit einer angstbesessenen Botschaft geraten, der seitdem viel Leben geopfert wird.     
 
Ich male das so drastisch aus, damit wir in etwa nachvollziehen können, was da eigentlich los war zwischen Gott und dem Menschen. Es geht beim sogenannten Sündenfall nicht um einen Apfel, den man nicht essen durfte und doch aß, nicht um die Verletzung eines Verbotes und um eine gebührende Strafe dafür. Das sind Bilder. Es geht um die folgenschwere Erschütterung eines tiefen Vertrauensverhältnisses, einer Urbeziehung, auf der alles Leben beruht. Wo aber dem Leben seine tiefste Grundlage geraubt wird, da gerät alles aus dem Gleichgewicht, bis in die Materie hinein. Nur wenn wir das erfassen, werden wir tiefer ahnen können, welches Geschenk uns mit der Eucharistie, auf die ich gleich zu sprechen komme, in die Hände und ins Herz gelegt wird.  
 
Wie reagiert Gott auf die Störung? Er respektiert die Distanz, die der Mensch gewählt hat. Dennoch kann Er nicht aufhören, der zu sein, der Er IST: Liebe. In gewisser Weise steht nun auch Gott an einer Kreuzung und ist festgenagelt, denn Er kann sein eigenes Wesen nicht verleugnen: Einerseits nämlich sehnt Er sich brennend nach dem Menschen, dem Er weiterhin mit unerschütterlicher Liebe zugeneigt ist; es drängt ihn, sein liebstes, nun todverfallenes Geschöpf aus dem Elend herauszuholen. Andererseits wird genau diese Sehnsucht von derselben Liebe durchkreuzt, die es ihm auferlegt, die Freiheit zu achten, die Er dem Menschen geschenkt hat und die dieser nun einmal gebraucht - besser: missbraucht –, um seinem Gott das Vertrauen zu verweigern. Als Liebender schlechthin muss Gott diese scheinbare Ohnmacht der Liebe, diese unglaubliche Spannung auf dem „Kreuzungspunkt“ aushalten, um es mal menschlich auszudrücken. 
 
Es bleibt Gott letztlich nur ein Weg: Mit der Anziehungskraft eben dieser gekreuzigten Liebe an die Freiheit des Menschen und an seine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies appellieren und ihn zur Versöhnung einladen. Mehr kann Er nicht tun. Und Er tut dies ganz und gar. Buchstäblich mit Haut und Haaren springt Er in die „Werbeaktion“ seines barmherzigen Herzens. Sehr schön ist es im vierten eucharistischen Hochgebet ausgedrückt: „Als er (der Mensch) im Ungehorsam deine Freundschaft verlor und der Macht des Todes verfiel, hast du ihn dennoch nicht verlassen, sondern voll Erbarmen allen geholfen dich zu suchen und zu finden.“ In gewisser Weise muss also auch Gott sich bewähren - in der unerschütterlichen Liebe zum Menschen, im Vertrauen auf dessen unzerstörbare Sehnsucht nach seinem Schöpfer, die Gott selbst ihm ins Herz gepflanzt hat.
 
Und wie tut Gott das? Die Bibel bezeugt es uns: Er ruft, Er wirbt um das Vertrauen der Menschen. Er ruft einzelne Menschen, Abraham, Isaak, Jakob, aus denen Familien und Sippen werden, schließlich ein ganzes Volk, das Volk Israel. Sie kennen die biblische Geschichte dieses Volkes, wie es in Ägypten lange Zeit unterdrückt und zum Aussterben verurteilt wurde. Und jetzt malt Gottes Geist der Menschheit ein neues Bild: das Bild der Befreiung seines geliebtes Volkes, das Er herausführt aus dem Elend der Sklaverei in Ägpten; nicht indem Er es hektisch am Schopf packt, auch nicht indem Er sich durch aufwändige Opfer erst besänftigen lässt, sondern mit einer beeindruckenden Geste, die die tiefe Achtung vor seinem leidenden Volk zeigt: Er stärkt ihm zuallererst dessen angeschlagene Identität, indem Er es in dieser dramatischen Situation am Abend vor dem Aufbruch sogar noch ein kleines Abschiedsfest feiern lässt. Die Familien und Hausgemeinschaften sollen ein Mahl halten, dabei ein Lamm mit Bitterkräutern essen als Symbol ihrer Wehrlosigkeit in den Jahren bitterer Knechtschaft, und Gemeinschaft erleben, während Gott schonend an den Feiernden vorübergeht und den Weg für ihren Aufbruch bahnt. Sie sollen sich dabei jedoch nicht gemütlich hinsetzen, die Zeit verplaudern und ihr Anliegen vergessen, sondern aufbruchbereit bleiben, gegürtet, mit Schuhen an den Füßen und den Stab in der Hand, bis ihre Stunde gekommen ist. Ich finde diese Geschichte ungeheuer spannend. Ob das alles haargenau so stattgefunden hat, ist zweitrangig. Wichtig ist das Gottesbild, das da vermittelt und weitergegeben wird und das im Vergleich zu den damals gängigen Gottesbildern geradezu revolutionär ist. Hier erlebten Menschen durch ihren Gott offensichtlich tiefe Wertschätzung und echte Befreiung aus einer aussichtslosen Situation, und das muss sie so beeindruckt haben, dass sie es noch heute dankbar jedes Jahr am Paschafest feiern. 
 
Gott führte nun sein befreites Volk durch Fluten und Wüsten auf den Weg ins Gelobte Land. Dieses neue Bild, das sich bis heute tief in das Gedächtnis des jüdischen Volkes eingraviert hat, begann die alte hässliche Lügenbotschaft der Schlange langsam umzukehren und den Weg zur ursprünglichen, immer noch gültigen Botschaft der Liebe Gottes frei zu machen, die sich niemals abbringen lässt zu lieben. Das Volk Israel sollte langfristig der ganzen Menschheit einen Gott verkünden, der DA IST (Jahwe), der sich für die Menschen interessiert, der sie befreit, der sie trotz allem immer wieder neu liebt und zur Umkehr einlädt.  
 
Doch das allein genügte nicht. Die Israeliten waren ja nicht bessere Menschen, sondern wie alle anderen in das von Generation zu Generation weitergegebene Unheil verstrickt. Es würde sich erneut in ihre Gottesbeziehung mischen und das neue Bild wieder trüben. Deswegen musste Gott sein Volk mühsam erziehen und ihm dabei Einiges zumuten. Immer wieder richtete Er sein Wort an Israel, um es zu stärken, zu locken, zu mahnen, zu führen, manchmal auch zu züchtigen. Das befreite Volk musste lernen zu begreifen wohin es rannte, wenn es seinem Gott wieder davonlief. Und es lief ihm oft genug davon. Gott aber erwählte sich aus seinem geliebten Volk einen „heiligen Rest“: kleine Leute, die sich von ihrem Gott Jahwe geliebt wissen und sich in ihrer Armut dankbar von Ihm beschenken lassen, die sich durch alles auf und ab das Vertrauen auf ihren Gott bewahrt haben und darin gewachsen sind. Die Bibel nennt sie die „Anawim Jahwe“, die Armen Jahwes, für die Er sorgt. Es sind nicht die Perfekten, sondern die, die sich in all ihrer Schwäche immer wieder herausführen lassen.  
 
Über diese „Heilsschiene“, die von Generation zu Generation bis zu dem jungen Mädchen Maria von Nazaret ging, bereitete Gott die größte Überraschung aller Zeiten vor: Er wollte selbst mitten hinein in das Leben der Menschen kommen, so wie es nun einmal geworden ist. Er wollte selbst Mensch werden mit Fleisch und Blut, die Last der todverfallenen Menschheit auf sich nehmen bis in den Tod hinein, um noch im tiefsten Abgrund das Herz des Menschen mit seiner Liebe zu „umwerben“ und zu erlösen. Er wollte ihm einen neuen Platz geben im Herzen seiner dreifaltigen Liebe.  Doch auch hier drängt Er sich nicht mit Wucht auf, sondern begibt sich mit einer zarten  Geste in sein größtes Abenteuer der Liebe, treu seinem eigenen Wesen: in tiefer Achtung vor der Freiheit, die Er dem Menschen geschenkt hat. Gott wartet sozusagen auf die Erlaubnis des Menschengeschlechts, die eine Frau, Maria, mit ihrem „Fiat“ für uns alle aussprach und in die einzustimmen wir eingeladen sind: „Es geschehe wie DU gesagt hast“ (Lk 1,38). Damit war die Distanz zwischen Gott und Mensch  überbrückt. Und das fleischgewordene WORT Gottes machte sich auf den Weg von der Krippe bis zum Kreuz, durch den Tod in den Ostermorgen hinein - in vollkommenem Vertrauen zum Vater und in unerschütterlicher Liebe zu den Menschen.  
 
Diese Aktion konnte in der Weise natürlich nur einmal in der Geschichte stattfinden, an einem konkreten Ort, in einer bestimmten Zeit. Gott hätte nicht wirklich Mensch werden können, wenn Er sich nicht an die Bedingungen menschlichen Lebens, wie der Schöpfer sie nun einmal eingerichtet hat, gehalten hätte. Wie jedes menschliche Wesen einmalig und unwiederholbar durch sein Leben geht, musste es Jesus Christus ebenso tun. Sonst wäre er ja nicht wirklich Mensch. Aber war Er denn nur für seine Zeitgenossen da? Sollten sich alle Menschen späterer Zeiten nur mit der Erinnerung an ihn begnügen? 
 
Wieder steht Gott vor einer „Kreuzung“: Wie konnte Er nur einmal als Mensch in der Welt leben und zugleich für alle Generationen als Fleisch gewordener Gott gegenwärtig sein? Eine echte Gratwanderung und natürlich eine nicht geringe Herausforderung an unseren Glauben ist der Weg, den Er nun beschreitet: Er setzt die Eucharistie ein. Am Abend vor seinem Tod feiert Jesus mit seinen Jüngern das jüdische Paschafest. Es ist wieder ein Abschied, wie damals in Ägypten. Jesus gibt diesem Fest eine neue Deutung: Es geht nicht mehr um den Auszug aus Ägypten, es geht um den Auszug des Menschen aus der Sklaverei seiner Todverfallenheit. Im Mittelpunkt steht nicht mehr das Lamm, das die Wehrlosigkeit in Ägypten ausdrückt, Jesus selber identifiziert sich mit dem ausgelieferten Menschen und wird wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt. Er nimmt den Vollzug seiner Hingabe am Kreuz nun zeichenhaft vorweg und gibt in den verwandelten Gaben von Brot und Wein sich selbst den Jüngern als Speise. Damit lässt Er sie mit Leib und Seele teilnehmen an seiner unfassbaren gekreuzigten und erlösenden Liebe, die stärker ist als der Tod. 
 
Wir sehen hier den tiefsten Abgrund der Liebe, die sich vorbehaltlos verschenkt, zugleich den Höhepunkt von Gottes Achtung vor der Freiheit, die Er dem Menschen geschenkt hat. Er setzt sich aus, Er schenkt den Jüngern eine Nähe, die intensiver und dichter nicht mehr sein kann. Doch Er tut es unendlich behutsam, geradezu „schonend“, ihre Freiheit zutiefst achtend. Während Er sich ganz gibt,  „nimmt Er sich bis zum Nichts zurück“, so drückt es die französische Benediktinerin Mechtilde de Bar aus. Wer da nichts sehen will, sieht in der Tat nichts. Wer sich öffnet, findet Leben. 
 
Wie die Juden nach dem Paschamahl in die geöffneten Fluten des Roten Meeres stiegen, geht Jesus nach dem Mahl mit seinen Jüngern in seinen Exodus hinein, konsequent bis zum Ende in seinem Vertrauen zum Vater und in seiner unerschütterlichen Liebe zu den Menschen. Das Mahl, das Er zuvor mit seinen Jüngern gehalten hat und das nach seiner Weisung wie das jüdische Paschamahl von Generation zu Generation weitergegeben und dankbar gefeiert werden soll, bindet die Menschen aller Generationen nun ganz real an diesen Weg der Liebe - nicht bloß in Gedanken, nein, jeden Einzelnen leiblich konkret und zugleich eingebunden in die Gemeinschaft der Erlösten. Die Erlösung, die nur einmal geschehen konnte, wird so für die Feiernden wirksame Gegenwart. 
 
Eine derart dichte, ja intime Geste der Hingabe begreift jedoch nur das Herz, also wer sich ganz persönlich glaubend und vertrauend darauf einlässt. Allerdings kommt die Kraft des Glaubens und Vertrauens nicht allein vom Menschen. „Niemand kommt zu mir, wenn nicht der Vater ihn anzieht“, sagt Jesus (Joh 6,44). Es ist die Freiheit, sich auf die Anziehungskraft der erlösenden Liebe des Vaters einzulassen, auf Gottes Geist, der jede und jeden Einzelnen anrührt und verwandeln will. Jede und jeder ist persönlich gemeint, eingebunden in die Gemeinschaft der Glaubenden. 
 
Was heißt das für uns heute? Zunächst, dass wir schlicht und einfach unsre Füße bewegen, unsere eigenen vier Wände verlassen und uns auf den Weg machen zur Kirche, wo die Gemeinde Eucharistie feiern will. Wir kommen zu Gott wie wir sind, zusammen mit unseren Schwestern und Brüdern, mit unserer Schwäche, Armut und allem Versagen, aber auch mit usneren Gaben, in unserer Sehnsucht nach tieferer Gemeinschaft mit ihm und untereinander. So stehen wir da vor Gott, vor Christus, und grüßen ihn: „Kyrie eleison!“ „Herr, erbarme dich!“ Dieser Ruf ist eigentlich mehr ein Gruß als eine Bitte. Wir grüßen den großen Erbarmer und bekennen Ihm unser Vertrauen in seine Güte. Im Gloria lobpreisen wir ihn als unseren Herrn, als unser unfassbares DU schlechthin: „DU allein der Höchste!“ Das anschließende Tagesgebet ist ein kurzer Moment der Sammlung, bevor wir mit den Lesungen in einen Dialog mit Ihm treten: Wir hören sein Wort, in dem Er selber zu uns spricht durch die uralten Texte des Alten und des Neuen Testamentes, wir antworten mit Psalmen und Liedern, wir bekennen unseren Glauben und halten ihm betend unsere Welt hin.
 
Angesprochen und gestärkt durch den Dialog mit Gott im Wortgottesdienst, bringen wir nun in den Gaben von Brot und Wein uns selber dar, legen uns in seine Hände: diese konkrete Gemeinde St. Familia in Kassel oder wo auch immer, die in dem Moment die ganze Kirche verkörpert, mit ihren Problemen, Fragen, Nöten, aber auch mit ihrer Dankbarkeit. Sinnvoll ist es, die Gaben von der Mitte des Kirchenschiffs aus zum Altar zu bringen, damit dies auch optisch deutlich wird. Beim Hochgebet nimmt dann die Gemeinde am Beten Christi teil. Christus identifiziert sich mit ihr, nimmt ihre konkrete Verfasstheit auf sich, verleiht ihr seine Stimme vor Gott. Vermittelt durch die verwandelten Gaben von Brot und Wein, schenkt Er in der Kommunion sich selber leibhaft jeder und jedem Einzelnen in der feiernden Versammlung. Sein Fleisch vereinigt sich mit unserem Fleisch, sein Blut fließt in unseren Adern. Er überhäuft uns neu mit der Mensch gewordenen Liebe Gottes, mit jener Liebe, die Er bis zum Kreuz durchhielt und mit der Er uns aus dem Tod ins Leben herausführte. 
 
Genährt von seinem Fleisch und Blut gehen wir nach der Feier hinaus in die Welt als Christi Leib, der wir zusammen durch ihn nun sind, mit dem Er heute an der Seite der Menschen durch unsere Welt geht bis zur Vollendung, die Menschen mit seiner unendlichen Liebe umwerbend und heilend. Und noch mehr: Als Glieder seines Leibes können wir in ihm selbst heilsam füreinander und für die Vielen sein, die sich noch nicht öffnen können: durch unser Dasein, durch unser Beten und Arbeiten, durch unser Mitleiden. 
 
Es liegt nun an uns, ob wir im lebendig pulsierenden Rhythmus dieser Liebe Christi in seinem Leib, der Kirche, dann auch bleiben, indem wir -  soweit es eben an uns liegt  - regelmäßig an der Feier der Eucharistie teilnehmen und Christus immer wieder leibhaftig empfangen. Sonst sind wir als Glieder im Leib der Kirche schlecht „durchblutet“ und es gibt auf Dauer so etwas wie Herzrhythmusstörungen, die den ganzen Leib betreffen. Jede Eucharistiefeier ist ja so etwas wie ein Herzschlag der Liebe Christi, die nicht aufhört zu fließen im Kreislauf seines Leibes, der Kirche. Genauso wichtig ist aber die Weitergabe dieser Liebe im Alltag. Wird sie verweigert, entstehen „Thrombosen“, Blutverstopfungen im Leib der Kirche, die sich ebenso dramatisch auswirken können. Die Beichte ist - um im Bild zu bleiben - so etwas wie die Auflösung des Blutpfropfens. Liebe kann nur wirken, wenn sie immer wieder erneuert wird und fließt. Erst recht gilt dies für die Mensch gewordene Liebe Gottes, die wir in uns aufnehmen.   
 
Schauen wir uns zum Schluss im Geiste noch einmal die Satellitenbilder an. Es wurde Abend ... und es wird wieder Morgen. Von Osten her bricht das Licht herein und nimmt die Dunkelheit hinweg, die wie eine Decke über den Völkern lag. Rom, Paris und Barcelona baden bereits in den ersten Sonnenstrahlen, in Lissabon und London brennen noch die elektrischen Lichter. Und was man vom Satelliten aus nicht sieht: Der Landwirt geht wieder auf sein Feld, die Mutter bereitet ihren noch müden Kindern einen Vitamintrunk, die Studentin schläft sich heute mal aus. Es ist immer noch die Welt, in der irgendwo in der Zone zwischen Dunkel und Licht das erfolglose Schulkind nach einer scheußlichen Nacht voller Albträume wie gerädert aufwacht, der Kranke mühsam seine schmerzenden Glieder streckt, der arbeitslose Familienvater unausgeschlafen in die Küche stolpert...  
 
Sie alle hören an diesem Morgen aus der Ferne Glockengeläut (die Studentin noch im Halbschlaf). Eine Handvoll Menschen versammelt sich zur Eucharistiefeier. Fast unbemerkt. Die ganze Welt nehmen sie in ihr Feiern mit hinein. Sie und mit ihnen alle Menschen dürfen wissen: „Ich bin nicht allein. Da ist Jemand, der mich ohne jede Bedingung liebt. Er ist bei mir, ja in mir! Er  identifiziert sich mit mir und hilft mir, die Herausforderungen meines Lebens zu bestehen. Er führt mich durch mein Leben zum Ziel, und das ist nicht in dieser Welt.“ Aus dem tiefen, wiedergeschenkten Urvertrauen, aus dem durch nichts zu ersetzenden Sich-Geliebt-Wissen von der Liebe in Person, die sich tief ins Wesen, ja sogar bis in den Leib hinein eingraviert hat, wächst neue Kraft zu, neue Freude am Leben, neue Hoffnung über den Tod hinaus, eine neue Chance zur Umkehr. 
 
Und ständig sagen irgendwo auf der Welt Menschen Dank dafür - Eucharistie heißt Danksagung -, empfangen Christus in der Kommunion, vereinigen sich mit Ihm, beten Ihn im Sakrament seiner Liebe an. Die Welt geht weiter ihren Lauf, beladen mit Problemen. Aber tief innen ist sie eine andere geworden: Christus hat sich ihr unwiderruflich einverleibt, Er hat sie zum Ort seiner unendlichen Liebe gemacht, die endgültig siegen wird. 
 
Sr. Mirijam Schaeidt OSB