Heinz Josef Algermissen
Bischof von Fulda
Predigt zur Fastenzeit in St. Familia, Kassel,
am Sonntag, 6. März 2005


Die Kirche ist ins Gerede gekommen. Es sind nicht nur einzelne momentane Reizthemen wie Kirchensteuer oder Zölibat oder Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Kirche selbst ist zum Reizthema und zu einer grundsätzlichen Frage geworden, angestachelt auch durch eine gnadenlose, mitunter geradezu zynische Kritik in den Medien.
Das alles hat Folgen - selbst bei denen, die sich treu und engagiert zur Kirche bekennen.
Wer ist Kirche?, das ist die Frage.
Jede und jeder Getaufte ist Kirche, könnte eine erste wichtige Antwort sein.
Aber welche Kirche?
Kirche von oben,
Kirche von unten,
Kirche von links,
Kirche von rechts,
Basiskirche,
Volkskirche,
Amtskirche. - Und dann noch Frauenkirche - Männerkirche …
Wer hat eigentlich ein Interesse daran, die Kirche so zu zerhacken und ihr Profil aufzulösen? Zum Profil der Kirche gehört es, nicht auf sich selbst, sondern auf Gott und Jesus Christus hinzuweisen.
In diesem Zusammenhang ist für mich ganz wichtig, was der spätmittelalterliche Maler Matthias Grünewald in einer Handbewegung auf dem Kreuzigungsbild des berühmten Isenheimer Altars dargestellt hat:
Der Maler hat den Täufer Johannes, mit übergroßem Finger auf den Gekreuzigten weisend, unter das Kreuz gestellt. Historisch sicher falsch, denn am Tag der Kreuzigung war Johannes längst durch Herodes Befehl enthauptet. Es soll hier aber keine historische, sondern eine theologische Aussage gemacht werden:
Johannes hatte den Auftrag, auf Christus hinzuweisen, ihm den Weg zu bereiten.
„Nicht ich, ER ist wichtig.“
Dieser Haltung muß unsere ganze Kirche sich verpflichtet wissen. Nicht wir sind wichtig, sondern daß ER durch die Kirche zum Vorschein kommt und nicht verdeckt wird. Das gehört zum unaufgebbaren Profil, zum Gesicht der Kirche. Dies sollten wir als ersten Punkt festhalten!
Als modernes Lebensgefühl wird heutzutage das Motto propagiert: „Richtig ist, was gerade Spaß macht.“
Was „in“ ist und was „out“, wechselt in rasantem Tempo, angeheizt durch Werbespots und Trendparolen. Es gibt nicht nur eine Mode in der Kleidung. Noch rascher wechselt die Mode der Welt - und Wertvorstellungen.
Light ist heute angesagt: „Kirche Light“. Jedes Angebot leicht bekömmlich und mit der Aufschrift versehen: „Du darfst“.
„Du darfst“ - so kann die Grundmentalität in unserer Gesellschaft zusammengefaßt werden. „Du darfst alles, Hauptsache, du hast deinen Spaß …“
Wer sich aber an Gott orientiert, muß sich manchmal auch sagen lassen: „Du darfst nicht!“ „Bis hierher und nicht weiter!“
Die Kirche muß demnach als „Sprachrohr Gottes“ gegen diesen Trend der Gesellschaft gehen und deren Schattenseiten zur Sprache bringen.
Sie verkündet:
In aller Veränderung bleiben Gottes Gebote gültig. In aller Veränderung bleiben die Worte Jesu gültig, die auf diesen Nenner gebracht werden können: Gott liebt jeden Menschen ohne Vorleistung. Aber als so Geliebte dürfen wir uns nicht alles erlauben. Der Mensch hat sich vor Gott zu entscheiden, was er tun und was er lassen will.
Weil die Kirche keine Trendboutique ist, kommt sie schnell in die Rolle der Spielverderberin oder der Außenseiterin. Der Ärger ist dann vorprogrammiert.
Die Kirche selbst verschärft den Ärger noch. Denn sie verkündet, wie es ihr Auftrag ist, die Botschaft Gottes mit einem unbedingten Anspruch. Ohne Wenn und Aber. Doch zugleich verstößt die Kirche immer wieder selbst gegen die Botschaft, die sie verkündet und steht sich im Wege. Auch das müssen wir bekennen. Und das hat unser Papst am 1. Fastensonntag im Jahr 2000 mit seinem großen Schuldbekenntnis eindeutig getan.
Die vollkommene Botschaft Gottes und die unvollkommene Kirche: Was für ein Widerspruch!
Daran muß man ja Anstoß nehmen.
Für alle in der Kirche stellt sich die Gewissensfrage: Verschärfe ich selbst den Gegensatz zwischen Botschaft und Praxis der Kirche oder verringere ich ihn?

Liebe Schwestern und Brüder!
In jedem Menschen steckt eine tiefe Sehnsucht nach Leben.
Die Kirche verkündet die Botschaft vom Leben.
Wenn nun jemand in seiner Sehnsucht nach Leben immer wieder enttäuscht wurde, dann muß er sich fast zwangsläufig darüber ärgern, daß es diese Botschaft immer noch gibt.
Ich frage mich häufiger:
Ob nicht manche Schmährede über die Kirche hier ihre tiefe Wurzel hat: Enttäuschte Sehnsucht?
Ob nicht manche Kritik auch eine behutsame Anfrage an die Kirche ist: „Kirche, sag mir deutlicher und zeig mir glaubwürdiger den Weg zum Leben!“?
„Dann sagen Sie es mir doch mal deutlich, kurz und bündig, wie der Weg zum Leben aussieht!“, so hörte ich es jüngst bei einem seelsorgerlichen Gespräch.
Also gut! Ich will’s versuchen.

Der Weg zum Leben hat es, wie ich glaube, zu tun mit einem dreifachen Doppelpunkt:
- Der erste Doppelpunkt heißt: Jesus Christus und ich.
Es wird Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, sicher auch aufgefallen sein, daß das so genannte „moderne Denken“ einen Begriff ausformuliert hat, der vor rund 20 Jahren noch gänzlich unbekannt war: Selbstverwirklichung.
Das an sich richtige und notwendige Ziel der Selbstverwirklichung wird von vielen allerdings sowohl atheistisch als auch egozentrisch mißverstanden. Autonom halten sie sich selbst für die erste und die letzte Instanz ihrer Lebensentscheidungen. Individualistisch dreht sich bei ihnen alles um das eigene ICH - und das nicht ohne Folgen:
Es zerbrechen immer mehr Ehen, weil jeder und jede nur die eigene Verwirklichung sucht, koste es, was es wolle. 
Die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, sich für andere in Gesellschaft und Kirche ehrenamtlich zu engagieren, weil dadurch ihr Privatleben beeinträchtigt wird, wächst rapide.
Ich-zentrierte Selbstverwirklichung ist genau das, was der Apostel Paulus in seinen Briefen mit den Worten „Sünde“ und „Tod“ bezeichnet. „Wir… dürfen nicht für uns selbst leben…, denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt“ (Röm 15, 1, 3).
Wer sich selbst entfalten will, was an und für sich gut und richtig ist, wer wirklich zu sich selbst kommen möchte mit all seinen Möglichkeiten; wer wirklich „ICH“ sagen will, der muß statt auf sich selbst auf Jesus Christus schauen. Denn Jesus ist Gottes Wort. Der Mensch ist Antwort.
Je mehr ich Ant-Wort bin auf das Wort, das Jesus Christus für mich ist, desto mehr entfalte ich mich, desto intensiver bin ich auf dem Weg zum Leben und werde für meine Umwelt zur Frage, die eine Anfrage provoziert.
- Der zweite Doppelpunkt für mich heißt: Jesus und der Nächste.
Wenn ich zu Jesus Christus Kontakt suche im Gebet, im Gottesdienst der Gemeinde, werde ich auf den Nächsten verwiesen. Auf viele Schwestern und Brüder in der Nähe und in der Ferne. Und ohne diese Schwestern und Brüder komme ich nicht zum Heil. Es gibt das Heil nicht für mich allein. Darum ist die Kirche auch so notwendig, darum ist sie lebendiger Leib mit dem Haupt Jesus Christus!
Wenn ich mich dann aber auf die Anfragen und Bedürfnisse der anderen Menschen einlasse, dann werde ich zugleich auch wieder auf Jesus Christus verwiesen. Sonst wäre ich bei all den Forderungen, die die anderen an mich stellen, beständig überfordert (Beispiel Bonifatius).
Je mehr ich diese doppelte Beziehung lebe zu Jesus Christus und zu den Menschen, desto intensiver bin ich auf dem Weg zum Leben. Wenn ich mich selbst in Jesus Christus gefunden habe, kann ich anderen den Weg weisen ? Missionierung.
- Der dritte Doppelpunkt heißt schließlich: Heute und in Ewigkeit.
Ich kann umso mehr im Heute, in der Gegenwart leben, je stärker ich dieses Heute auf die Ewigkeit beziehe. Mein Leben ist kein diffuses, beziehungsloses Nacheinander von Stunden und Tagen. Meine Lebenszeit mit allem, was dazugehört, sammelt sich und ist aufgehoben in der Ewigkeit Gottes.
Je mehr ich diesen Tag heute - selbst in seiner Problematik - in Beziehung setzen kann zur Ewigkeit Gottes, auf die ich zugehe, desto mehr kann ich mich einlassen auf das, was heute dran ist; - desto intensiver bin ich auf dem Weg zum Leben.
“Ich bin bei euch alle Tage, bis zum Ende dieser Welt.“ Diese letzten Worte Jesu am Ende des Matthäus-Evangeliums sind die große universale Perspektive für mein Leben, das Leben unserer Kirche, das Leben der Welt. Im Vertrauen auf diese Zusage kann ich meinen kleinen Weg in und mit der Kirche gehen - wissend, daß unsere Kirche von Anfang an heilig und gleichzeitig Kirche der Sünder ist.

Liebe Schwestern und Brüder!
Drei Doppelpunkte also zum intensiven Leben, das wir suchen:
Jesus und ich
Jesus und der Nächste
Heute und in Ewigkeit.
Unsere Kirche ist die Gemeinschaft derer, die das feiern und immer wieder neu zu leben versuchen. - Angefochten und schwach zwar, aber dennoch!
Alle, die Sehnsucht nach Leben haben, sind eingeladen. In jeder Gemeinde! Schaffen wir die Bedingungen, daß Suchende ihr Leben finden!