Dr. Joachim Wanke, Bischof von Erfurt
Wozu Kirche taugen soll
„Den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreiten“ (2 Kor 2,14)
Predigt zur Fastenzeit am 27. Februar 2005 in Kassel, St. Familia


Lesetext: 2 Kor 2,14 - 3, 3


Paulus schreibt den Christen in Korinth: „Dank sei Gott, der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet“ (2 Kor 2,14) - auch in Kassel! Ja, Paulus sieht in der Gemeinde so etwas wie einen Einladungsbrief Christi, den alle Menschen lesen und verstehen sollen. Es geht um die große Einladung an alle, Reich-Gottes-Anwärter zu werden.  Dieser Einladung sollen wir selbst folgen, und wir sollen sie allen unseren Zeitgenossen überbringen.
 
Das wichtigste Anliegen meiner Predigt ist dies: Wir brauchen heute dringender denn je missionarische Christen. In Anlehnung an das bekannte Wort von Karl Rahner sage ich: Wir Christen werden missionarisch sein - oder wir werden nicht mehr sein.
 
Wenn das stimmt, ist die Frage nach der Anzahl der Christen oder die Leistungsfähigkeit von Pfarrgemeinden und Diözesen in unserem Land eine nachgeordnete Frage. Es geht vielmehr um eine bestimmte innere, geistliche Gestalt des Christseins und Kircheseins. Die entscheidende Frage ist, ob wir davon überzeugt sind, dass es gut für alle ist, Jesus Christus zu kennen und sich von ihm in der Art des eigenen Lebens und Sterbens bestimmen zu lassen. Diese Überzeugung, so sage ich einmal etwas ungeschützt, ist uns abhanden gekommen.
 
Im Normalfall vertrauen wir als Mittel der „Christenvermehrung“ auf die Taufe der Kleinstkinder. Dagegen ist im Grunde auch nichts zu sagen. Freilich: weder in Thüringen noch hier in Hessen werden alle als Kleinstkinder Getauften auch wirklich „nachhaltig“ Christen. Manche katholische Eltern spüren das selbst sehr schmerzlich, wenn sie sehen, wie sich ihre Kinder trotz allen Bemühens von der Kirche entfernen.
 
Es ist eine Tatsache, dass religiöse Vorgaben, überhaupt gesellschaftliche Gepflogenheiten heute nicht mehr so fraglos übernommen werden wie in vergangenen Generationen. Darüber zu klagen ist wenig sinnvoll. Es ist einfach so, und wir beobachten solches traditionskritisches Verhalten auch an uns selbst.
 
Die Herausforderung 
Umfragen über die religiöse Bindung der Deutschen haben ergeben, dass in den alten Ländern der Bundesrepublik mehr Menschen Kirchenmitglieder sind als an Gott glauben. Umgekehrt aber gibt es Zählungen, die für die neuen Bundesländer belegen: Hier glauben mehr Menschen an Gott (oder an eine „höhere Macht“) als Mitglieder einer Kirche vorhanden sind.
 
Für mich ist dieser Befund durchaus verständlich. Ausdrücklicher Atheismus ist nicht jedermanns Sache. Die Leute bei uns im Osten sind sicherlich auf tiefer gehende Fragen des Gelingens oder Misslingens von Leben und menschlicher Beziehungen ansprechbar, ohne sich dabei als „religiös“ zu bezeichnen. Eine Kirchenbindung kennen sie oft überhaupt nicht mehr. Ihre „Welt- und Lebensanschauungen“ setzen sich aus verschiedensten Versatzstücken zusammen, darunter sicher auch Relikte aus dem Repertoire der alten marxistischen Religionskritik, vermengt mit den Vorurteilen und Missverständnissen über Kirche, Religion und Christentum, die sie jetzt aus der allgemeinen gesellschaftlichen Gestimmtheit übernehmen, aber auch versetzt mit dem dumpfen Gefühl, dass man durchaus auch anständig leben und ein ordentlicher Mensch sein könne, ohne den in ihren Augen strapaziösen Verhaltenskodex einer konkreten Kirchenbindung zu übernehmen.
 
Vermutlich sind wir in den neuen Bundesländern Vorreiter in einer Entwicklung, die uns als Kirche und Christen zu einer kopernikanischen Wende in unserem Selbstverständnis verhelfen wird. Wir lernen neu Kirche für und mit den Menschen zu sein. Dadurch werden wir vertiefter das, was wir eigentlich als Kirche sein sollen: Duft des Evangeliums vom Leben, „Einladungsbrief“ Jesu Christi für die Zeitgenossen.
 
Unsere derzeitige „offene“ Situation bringt, so meine ich, eine entscheidende Chance mit sich: Der christliche Glaube wird wieder neu zu einer echten persönlichen Entscheidung. Das Traditionschristentum wandelt sich mehr und mehr zu einem Wahlchristentum. Der heutige Zeitgenosse (und dazu gehört auch der als Kleinstkind Getaufte) fragt, warum er eigentlich Christ werden bzw. bleiben soll. Er fragt gleichsam nach dem „Mehrwert“ des Christseins. Können wir den verständlich machen?
 
Skepsis gegenüber dem Stichwort Mission
Es gibt in unseren Breiten, auch innerhalb der Kirche eine oft unartikulierte, aber dennoch sehr wirksame Skepsis gegenüber dem Stichwort Mission, also einer auf Außenstehende zugehenden Glaubensverkündigung. Der harte Kern dieser Skepsis hat seine Ursachen in der gegenwärtigen geistigen Situation unserer Gesellschaft. Diese ist geprägt von den Spätfolgen der Aufklärung und der Christentumskritik ideologischer Systeme einerseits, andererseits von der zunehmenden Subjektivierung bzw. Privatisierung des Religiösen in der Moderne. Meist begegnet man der Haltung: Religion ist Privatsache! Da kann man niemandem hereinreden! Und im Übrigen: Soll doch jeder nach seiner Fasson selig werden!
 
Das Lebensgefühl unserer Zeit, der „Postmoderne“, definiere ich gern als den Versuch, die Welt vom eigenen Ich her zu entwerfen. Alle Vorgaben, welcher Art auch immer, stehen heutzutage grundsätzlich unter Verdacht. Das gilt übrigens nicht nur gegenüber den Vorgaben des christlichen Glaubens. Der gleiche Verdacht wird allen „Konventionen“ und Traditionen entgegengebracht, und vor allem jenen Institutionen, die diese repräsentieren. Dahinter stehen komplizierte Modernisierungsprozesse, deren Folgen derzeit noch nicht überschaubar sind. Das macht in der Tat jeden Versuch einer „missionarischen Präsenz“ von Kirche und Christentum schwierig. Die Kirchen stehen gleichsam unter pauschalem „Verdacht“, sich nur selbst aus Eigeninteresse reproduzieren zu wollen.
 
Das pastorale Gewissen der Kirche kann sich freilich nicht mit der bloßen Kenntnisnahme solch einer Diagnose beruhigen.
 
Was hoffen lässt
Ich habe die Vision einer katholischen Kirche in Deutschland, die sich darauf einstellt, auch ungetaufte Erwachsene für den Gottesglauben und die Taufe gewinnen zu können.
 
Diese Vision wird hier und da schon Realität. Im Jahr 2003 wurden in allen deutschen Diözesen ca. 206.000 Taufen gespendet. Davon waren aber rund 3.500 Jugendliche bzw. Erwachsene. Je mehr sich Menschen, zum Teil schon in der zweiten und dritten Generation von der Kirche entfernt haben, desto mehr wird es Einzelne geben, die sich aufgrund persönlicher Entscheidung Gott und der Kirche zuwenden wollen.
 
Die Tatsache einer zwar noch kleinen, aber langsam wachsenden Zahl von Erwachsenentaufen in Deutschland macht darauf aufmerksam, dass mit einem neuen Fragen nach Christentum und Kirche zu rechnen sein wird. Interessant ist die Tatsache, dass nicht wenige jugendliche oder erwachsene Taufbewerber bei uns aus dem Raum einer nahezu „chemisch reinen“ Kirchenferne kommen.
 
Es wird in Zukunft Frauen und Männer geben, die - obwohl als Kleinstkinder getauft, aber später nicht christlich erzogen - nun das Verlangen haben, als Erwachsene diese „Einführung in das Christ-Sein“ nachzuholen.
 
Es gibt also nicht nur Menschen, die die Kirche (in der sie oft gar nicht richtig verwurzelt waren) verlassen. Es gibt zunehmend auch Zeitgenossen, die nach dem „Eingang“ fragen, der in die Kirche hineinführt. Es ist entscheidend, wen sie in diesem Eingangsbereich treffen. Es wird wichtiger werden als bisher, wie sie dort empfangen werden.
 
Ein Pfarrer aus dem Bayrischen erzählte mir einmal, welches Neuheitserlebnis für ihn eine ungetaufte Ostdeutsche war, die mit ihrem bayrischen Verlobten zum Brautgespräch erschien und sich dort durchaus interessiert, aber mit merkwürdigem Vokabular nach dem erkundigte, was eigentlich ein Katholik alles zu glauben hätte. Der Pfarrer gestand mir, er sei ordentlich „ins Schwitzen“ gekommen. Er musste sich in seiner Denk- und Sprechweise gewaltig umstellen, um der gutwillig Fragenden einigermaßen verständlich antworten zu können.
 
Ich behaupte einmal etwas kühn: Je größer die Entfremdung, desto unbefangener und unbelasteter wird ein neuer Zugang zum Gottesglauben möglich.
 
Ich verkenne dabei nicht, welche Bedeutung der noch weithin präsente Hintergrund der christlich-kulturellen Einfärbung unseres gesellschaftlichen Klimas, aber auch der Einfluss christlicher Feste und Bräuche, von Kirchbauten und anderen Zeugnissen lokaler Kirchengeschichte auf diese Offenheit für den christlichen Glauben hat. Das „Herkommen“, der Ursprung, das Interesse für die Wurzeln unserer individuellen und gemeinsamen Geschichte bewegt die Menschen. Ein Indiz dafür ist das Interesse der Menschen an Kirchgebäuden und anderen christlichen Bauten an den „Tagen des offenen Denkmals“.
 
In den neuen Bundesländern ist eine solche Entwicklung, die sich dem Fremdgewordenen gegenüber wieder öffnet, schon deutlicher zu spüren als in den noch „christentümlich“ geprägten Regionen Deutschlands. Das Interesse an dem nicht Selbstverständlichen mag ein menschliches Urdatum sein und als solches noch nicht viel besagen. Aber es ist zumindest ein Anknüpfungspunkt für eine Botschaft, die dann in sich ihre Überzeugungskraft erweisen muss.
 
Aus diesen Beobachtungen sind freilich keine voreiligen bzw. falschen Erwartungen abzuleiten. Vor einem möglichen Kircheneintritt befinden sich noch viele „Tretminen“ und „Stacheldrahtverhaue“. Aber allein die Tatsache, dass es vereinzelt solche Zuwanderungen aus radikal kirchen- und religionsfernem Milieu gibt, lässt mich aufhorchen. Die Vorurteile gegenüber Kirche und Gottesglauben werden diffuser, substanzloser und sie werden, charakteristisch anders als bei getauften Ungläubigen, nicht mehr existentiell an der eigenen Biographie festgemacht.
 
Neue Aufmerksamkeit für das Unterscheidende
Das missionarische Zeugnis der Kirche insgesamt und des einzelnen Christen wird auch durch folgende Entwicklung begünstigt:
 
Inmitten einer pluralen, vieles nivellierenden und „gleich-gültig“ machenden Öffentlichkeit findet das profilierte Zeugnis einer Minderheit neue Aufmerksamkeit.
 
Je mehr „alle Katzen grau sind“, desto interessanter wird das „Unterscheidende“! Ein profilierter Lebensentwurf, eine dem Zeitgeist widerständige Haltung, ein aus tiefer und glaubwürdiger Überzeugung gesetztes Zeichen - all das findet auch im Zeitalter der Massenkommunikation, vielleicht sogar gerade deshalb, durchaus Beachtung. Zudem scheint es ein Urgesetz menschlicher Kommunikation zu sein, dass Personen, zumal authentisch wirkende Personen, immer interessant sind (weniger Institutionen, die eher dem Generalverdacht ausgesetzt sind, „vereinnahmen“ zu wollen!).
 
Meine Erfahrung ist: Nichtkirchliche Zeitgenossen reagieren dort sehr aufmerksam, wo Christen in Gesprächen, in Alltagsbegegnungen mit eigenen Lebenserfahrungen „herausrücken“. Persönliches interessiert immer! „Wie hast Du das gepackt?“ „Wie ist es Dir damit ergangen?“ Christen, die andere an ihrem Leben teilhaben lassen, gerade auch, wenn es nicht glatt und problemlos verläuft, sind für ihre Umwelt interessant! Unser eigener, ganz persönlicher Gottesglaube, auch mit seinen Zweifeln und Fragen, kann durchaus „sprechend“ werden - in Worten und Taten. Wer die Höhen und Tiefen seines eigenen Lebens mit österlichen Augen ansehen und deuten kann, kann auch anderen helfen, die eigene Biographie in neuem Licht zu sehen.
 
Das bedeutet: Kirche muss stärker noch als bisher „Gesicht“ zeigen. Vielen Zeitgenossen erscheint unsere Kirche als eine Art „Großkonzern“, als eine Art „global player“, dem es durchaus mit Respekt, aber eben auch mit der nötigen Vorsicht zu begegnen gilt. Man hält Abstand! Anders ist es, wenn Menschen Personen erleben. Man macht heute vielfach an Gesichtern fest, wofür oder wogegen man Stellung beziehen möchte.
 
Mein Standardbeispiel für dieses Verlangen ist diese kleine Geschichte. Eine Frau aus dem Pfarrgemeinderat geht einen Kranken in der Nachbarschaft besuchen. Zu ihrer Überraschung wurde sie von dem Kranken mit dem frohen Ausruf begrüßt: „Das ist aber schön, Frau Müller, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!“ Wir sind für mehr Leute „Kirche“ als wir es selbst ahnen! Wir brauchen dazu freilich einen gewissen Freimut. Wir brauchen dazu missionarische Spiritualität.
 
Missionarische Spiritualität
Das ist ein hochgestochenes Wort. Ich übersetze dieses Wort so: Bereitschaft, sich in Glaubensdingen ins Herz schauen zu lassen. Hier beginnen freilich unsere Schwierigkeiten. Denn eben das ist bekanntlich in Deutschland verboten. Man kann in unseren Breiten über alles reden, nur nicht über zwei Dinge: Die Höhe des Gehaltes und die eigene religiöse Orientierung!
 
An diesem Punkt gilt es anzusetzen. Es geht um eine Wende in unser aller Einstellung, um eine veränderte Bewusstseinshaltung aller Christen. Ich verkenne nicht die Aufgabe, sorgfältig die gegenwärtigen gesellschaftlichen Ver­änderungen und geistigen Entwicklungen im Blick auf die Aufgaben der Kirche zu analysieren. Doch meine ich: Diagnose haben wir in unserer Kirche genug. Was uns fehlt ist: Therapie! Wir Christen müssen in der Begegnung von Mensch zu Mensch die Zuversicht entwickeln, dass wir etwas zu sagen haben. Und zwar etwas, was nicht in der Zeitung steht und was nicht durch den Fernseh-Ratgeber vermittelt wird. Wir müssen als Christen „auskunftswillig“ und „auskunftsfähig“ werden.
 
Selbstzweifel, Resignation und Defaitismus sind keine guten Ratgeber für uns Christen. Die oft unbewussten Signale, die von den Trägern einer Botschaft ausgehen, sind ebenso bedeutsam wie die Botschaft selbst. Wie sagt Paulus? „Dank sei Gott, der uns stets (! - also auch in der Vereinzelung unter Nichtglaubenden!) im Siegeszug Christi mitführt...!“ Überall, wirklich überall ist der Duft der Erkenntnis Christi vermittelbar.
 
Ein Pfarrer im Bistum Erfurt sagte mir einmal halb ernst, halb scherzhaft: „Ich habe hier an meinem Ort mit ‚fortlaufendem Erfolg’ gearbeitet!“ Und er meinte damit, dass sich die Katholikenzahl in den letzten zehn Jahren seines Wirkens um die Hälfte verringert hat. Dieser Pfarrer war übrigens keineswegs frustriert: Er wusste, dass der „fortlaufende Erfolg“ nicht allein von ihm zu verantworten ist, sondern weithin der „Wende“ zuzuschreiben ist, etwa der Tatsache, dass die jungen Leute jetzt nach Bayern und Baden-Württemberg gehen, weil sie dort Arbeit finden.
 
Das ist nüchtern als Realität anzuerkennen. Aber deswegen werden wir in Thüringen nicht - um im Bild zu bleiben - die Niederlassung „Kirche“ schließen! Es gibt durchaus neue „Niederlassungsmöglichkeiten“!
 
„Demütiges Selbstbewusstsein“
Wie immer sich das auch regional darstellt: Christ-Sein und Kirche-Sein in heutiger Zeit bedarf Menschen, die um den Reichtum der eigenen Glaubensbotschaft wissen, die mit „demütigem Selbstbewusstsein“ sich als Träger einer Verheißung und einer Botschaft verstehen, die für alle Menschen wichtig und befreiend ist. Gute Dinge sagt man wie von allein weiter, einen heißen Urlaubstipp etwa. Natürlich geht es bei der Beziehung zu Gott um etwas Wichtigeres, vor allem auch Intimeres, was man nicht sofort und geschwätzig auf dem Markt ausposaunt. Aber ist der Vergleich mit dem Urlaubstipp in allen Punkten unangemessen?
 
Vor allem möchte ich mit dem Vorurteil aufräumen, das sagt: Wir müssten erst warten, bis das Evangelium in jedweder Hinsicht von mir, von der Kirche vorbildlichst verwirklicht und gelebt wird. Natürlich ist das anzustreben. Wer Opel verkaufen will, sollte auch Opel fahren! Doch geht es hier zunächst einmal um unsere Identität als Christen, als Kirche, gleichsam um das uns allen gemeinsame Leitbild. Wir müssen in Kürze und verständlich sagen können, wozu Kirche und Gottesglauben überhaupt gut ist.
 
Damit knüpfen wir im Grunde beim ursprünglichen Sinn von Kirche an, so wie es uns auch das letzte Konzil neu erschlossen hat. Ich gebrauche für das Verstehen von Kirche gern das Bild des Resonanzraumes. Der Ton eines Instruments kann nur zum Klingen kommen, wenn ein guter Resonanzraum diesen Ton aufnimmt und so hörbar werden lässt. Kirche ist dazu da, den Menschen der jeweiligen Zeit zu helfen, den „Ton“ des Evangeliums Jesu Christi zu vernehmen. Sie soll ihnen „Gottesberührung“ ermöglichen, Lebenskontakt mit der Botschaft Jesu Christi, die im Letzten er selbst in Person ist. Kirche ohne diesen Willen zu einer „missionarischen Präsenz“ kann es gar nicht geben, im gewissen Sinne kann man auch sagen: hat es wohl nie gegeben. Natürlich: Wenn alle getauft sind, wird die Christenheit manchmal müde und träge. Aber Gott sorgt schon dafür, dass wir geistlich wach bleiben! Er schickt uns z. B. die ungläubigen Mitmenschen als Störenfriede, die uns in unserem Christenschlaf aufscheuchen! Vielleicht haben auch muslimische Nachbarn eine solche Aufgabe!
 
Paulus sagt einmal, als er sich Rechenschaft gibt über sein rastloses Wirken als Missionar und Gemeindegründer im Raum des Mittelmeeres: „Das alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank vervielfachen, Gott zur Ehre“ (2 Kor 4,15). Das ist eine glückliche Formulierung für das, was wir das „Kerngeschäft“ der Kirche nennen können: Sie ist dazu da, den Dank, die eucharistia an Gott zu vervielfältigen. Und dazu trägt jeder einzelne Christ bei, der Priester, der die Messe feiert, aber auch die Mutter, die mit dem Kind an der Bettkante betet.
 
Darum, um diese Anstiftung zur „Danksagung“ bemühe ich mich in Thüringen als Bischof. Dazu tragen aber auch viele andere bei, der Caritasmitarbeiter etwa, der eine andere Facette dieser Dankesaufgabe von Kirche verwirklicht, die Diakonie. Dazu trägt eine Großmutter bei, die ihr Enkelkind beten lehrt, oder eine Gemeindereferentin, die jungen Leuten Geschmack am Christ-Sein vermittelt. Möglichst viele Menschen sollen durch den Dienst der Kirche insgesamt und das Lebenszeugnis jedes einzelnen Christen entdecken, dass sie Grund haben zum Danken, ja, dass sie sich in einem letzten und tiefsten Sinne „verdankt“ wissen dürfen.
 
Damit das geschehen kann, müssen wir einander das Herz öffnen. Glaube kann sich nur an Glauben entzünden. Unsere je eigene Gottesbeziehung muss „sprechend“ werden. Ob das gelingt, ist meines Erachtens die wichtigste Frage im Blick auf die Zukunft von Kirche und Christentum in Deutschland.
 
„Religiös auskunftsfähig“ werden
 
Das bedeutet: Die verbreitete Unfähigkeit, unserem Glauben eine überzeugende „Sprachgestalt“ zu geben (womit ich nicht nur Worte meine!), muss überwunden werden. Wir brauchen in der heutigen Zeit, abgekürzt gesagt, weniger religiösen „Hochleistungssport“, sondern wieder neu „Elementarübungen“ in Sachen christlicher Glaube. Wie geht das: Gott festzuhalten mitten im Alltag? Wie geht das: Beten in der Mediengesellschaft? Geistliche Tiefenbohrungen zu machen mitten im Wüstensand unseres normalen Lebensalltages?
 
Ich erwähne nur einige kleine Beispiele, die in die genannte Richtung zielen.
 
Zunächst ein Beispiel aus dem persönlichen Umfeld: Ein junges Ehepaar - die Frau stand kurz vor der Taufe - erzählte mir, das sie folgenden Brauch eingeführt hätten. Ehe sie frühmorgens aus dem Haus gehen, um beide ca. 25 km zur Arbeit zu fahren, machen sie sich gegenseitig ein kleines Kreuz auf die Stirn. Mit diesem Zeichen empfehlen sie sich gegenseitig dem Schutz und dem Segen Gottes. Um den Glauben dieses jungen Paares habe ich keine Sorge! - Gibt es nicht manche Möglichkeiten, solche kleinen, praktikablen Zeichen der Gottesnähe in unseren Lebensalltag einzubauen?
 
Ich erwähne hier, was wir auch als verfasste Kirche tun können. Über Erfurt hinaus ist bekannt das nächtliche „Weihnachtlob“ im Erfurter Dom, bei dem sich viele, besonders auch junge Erfurter einfinden, beileibe nicht nur Kirchgänger. Katholiken feiern natürlich in dieser Nacht die Heilige Messe mit. Aber warum haben wir nichts für jene, die noch nicht fähig sind für die große Danksagung der Kirche?
 
Ebenfalls in Erfurt, aber auch schon an einigen anderen Orten im Osten werden von unserer Kirche sogenannte „Lebenswende-Feiern“ angeboten, die ausschließlich für ungetaufte Jugendliche gedacht sind. Die 14- und 15-Jährigen suchen nach solchen Feiern, in denen sie ihr Leben deuten und Begleitung durch verständnisvolle Erwachsene erfahren.
 
Ein weiteres Beispiel: Am Abend des jetzt auch im Osten sich verbreitenden Valentinstages, des Tages der Verliebten, wird seit einigen Jahren in einer Innenstadtkirche ein ökumenischer Segnungsgottesdienst angeboten, und zwar für alle, die möchten, dass ihre Beziehungen „glücken“. Ein Chagallbild wird betrachtet, 1 Kor 13 (das Hohelied der Liebe) wird gelesen, ein Silbernes Ehepaar, ein frisch verheiratetes Ehepaar und ein jung verliebtes Pärchen erzählen, wie es ihnen mit ihren Beziehungen ergeht, und dann segnen in ökumenischer Eintracht ein Pfarrer und eine Pfarrerin, aber auch diese Laienchristen alle, die im Sinne dieser Intention gesegnet werden wollen. Das Interesse für diesen Gottesdienst unter nichtkirchlichen Mitbürgern ist gegeben! 
 
Oder ein letztes Beispiel: Am ersten Freitag eines Monats, um 15.00 Uhr, zur Sterbestunde Jesu, wird im Dom ein Totengedenk-Gottesdienst gehalten, und zwar für alle, die um einen Toten trauern und keinen Ort dafür haben. Ein Buch für die Toten ist aufgelegt, in das Menschen die Namen derer eintragen, um die sie trauern. Ganz einfache Gebete werden gesprochen. Die Trauer, aber auch die Hoffnung auf das Leben, das Gott schenkt, und zwar schon hier und jetzt, wird ins Wort gehoben. Ich war unsicher, ob Menschen das annehmen. Doch es gelingt. Es gibt ja immer mehr anonyme Bestattungen. Es gibt zunehmend Hilflosigkeit, mit dem Sterben vertrauter Menschen so umzugehen, dass man daran nicht zerbricht. Das Verhalten der weithin nichtchristlichen Bevölkerung nach den Mordtaten im Gutenberggymnasium unserer Stadt hat mir dies wieder gezeigt. Die Menschen suchten in Scharen den Dom und andere Kirchen auf, um gerade in diesen sakralen Räumen etwas zu erfahren, wonach sie unbewusst suchen: nämlich wider alle Hoffnung hoffen zu können. - Was erwächst daraus für uns als Verantwortung?
 
„Kirche des Willkommens“ werden
 
Ich sage es einmal sehr allgemein: Wer mit Kirche zum ersten Mal in Berührung kommt, sollte damit rechnen dürfen, willkommen zu sein. Kirche ist zwar nicht für alles, aber doch für alle da. Die Kerngemeinde und wir Pfarrer müssen lernen, auch mit den kirchlich Distanzierten gut umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Diese Menschen sollten spüren dürfen: Wir sind in der Gemeinde, im Umfeld von Kirche willkommen. Wir stören nicht, wenn wir so kommen, wie wir sind. Wir brauchen nicht erst unsere „Alltagsgarderobe“ im Vorraum abgeben, wenn wir einmal in der Kirche oder in der Gemeinde auftauchen. Das bedeutet: Vermutlich werden in naher Zukunft die außersakramentalen Zeichen, die ja auch „Gottesberührungen“ sind, zunehmend an Bedeutung gewinnen. Gerade auf diesem Feld hat unsere katholische Kirche eine reiche Erfahrung. Diese gilt es zu nutzen und weiterzuentwickeln.
 
Wir brauchen in unserem Land „Biotope des Glaubens“, existentiell glaubwürdige „Lernfelder“, in denen christliches Lebenswissen abgefragt und christliche Lebenshaltungen eingeübt werden können. Das werden vornehmlich unsere Pfarrgemeinden mit ihren Lebenszellen sein, etwa kleinere Gruppen, in denen z. B. erwachsene Taufbewerber begleitet werden. Das werden aber auch andere geistliche oder verbandliche Gruppen sein. Wir müssen uns im Blick auf die „bunten“ Lebenssituationen der Menschen vermutlich noch manche andere christliche „Milieu-Formen“ in dieser postmodernen Gesellschaft einfallen lassen.
 
Ich denke an die vielen Ungläubigen und „Halbgläubigen“, die in Zukunft vermehrt mit der Kirche Berührung suchen werden, etwa bei den Gottesdiensten an Festtagen, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder manch anderen Situationen. Es gibt Erwartungen an die Kirche, die wir nicht leichthin abtun sollten!
 
Es muss sich in unserem Umfeld herumsprechen: „Da bei der Kirche gibt es Leute, da kannst du einmal hingehen!“ „Dort wirst du gut behandelt! Da hat man für dich und deine Anliegen ein Ohr!“ Die Pfarrgemeinde, das Pfarrhaus, die christliche Verbandsgruppe, andere kleine Lebensgruppen von Gläubigen müssen als „Orte“ gelebter Christlichkeit, als „Inseln der Menschlichkeit“, als „Orte des Erbarmens“ und möglicher menschlicher „Annahme“ bekannt sein. Wir können nicht die Arbeitslosigkeit beseitigen. Das ist richtig. Aber wir können Arbeitslosen helfen, ihr Selbstbewusstsein nicht zu verlieren und ihre Würde zu bewahren.
 
Dem Grundverdacht, Kirche und Glauben engen das Leben ein, machen es klein und „mickrig“, muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer derartigen „Kirche-Berührung“ dann auch eigene Lebensumkehr folgen muss, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst freilich aus Annahme, nicht umgekehrt. Und jede „Annahme“, auch jene, die Anforderungen stellt und einen Neuanfang in den Blick nimmt, ist heute für die Menschen wie ein Fest inmitten einer oft harten und unmenschlichen Welt.
 
Die Quellen sauber gefasst halten
Nochmals: Nur das Profilierte beeindruckt bzw. weckt Aufmerksamkeit, nicht das „Angepasste“ und unkenntlich Gewordene. Das Profil des Christlichen muss freilich liebenswürdig erscheinen, einladend, und es muss sich argumentativ präsentieren. Solche Profiliertheit kann es sich andererseits dann leisten zuzulassen, dass es in unserer Kirche „Haltegriffe“ für Einsteiger, und „Trittbrett-Möglichkeiten“ für nur zeitweilig Mitfahrende gibt. Aber es braucht eben auch den „Zug“, der unbeirrt von der inneren Verfasstheit und der Anzahl der möglichen Passagiere, planmäßig und mit Zuverlässigkeit seine Strecke fährt.
 
Ohne Bild gesprochen: Um „Kirche für die Unentschiedenen“ zu sein, bedarf es der „Kirche der Entschiedenen“. Oder anders gesagt: Wer Dienstleistungen für Leute anbietet, die oft nur Teilleistungen in Anspruch nehmen, muss doch dafür sorgen, dass das Ganze der Dienstleistung ständig und ohne Abstriche im Angebot bleibt. Gerade wenn die Kirche eine Kirche für alle sein will, (in der Konzilssprache ausgedrückt: universales Sakrament des Heiles), muss sie dafür sorgen, dass in ihrer Mitte diese sakramentale Wirklichkeit nicht austrocknet oder verdunstet. Konkret: Es muss Kerngemeinden geben, die sich um den Altar und um das Wort Gottes versammeln.
 
Bei allem noch nicht absehbaren Gestaltwandel von Kirche- und Gemeinde-Sein heute und morgen, dürfen wir das nicht vergessen: Die Quellen müssen immer sauber gefasst bleiben. Die Anstöße zum Christwerden können vielgestaltig sein. Manchmal sind es Zufälligkeiten: ein Erlebnis, eine Begegnung, ein Knistern in der Eisdecke des Lebens, auf der man sonst so sicher und flott dahingeschritten ist. Über solche Einstiege hinaus zählt aber letztlich die Frage: Was trägt wirklich? Gibt mir der Glaube etwas, was ich anderswo nicht finden kann? Gibt es das wirklich: „richtiges“ Leben inmitten des „falschen“? Es geht um das Gelingen des Lebens über den Tod hinaus. Solche Auskünfte - nicht nur in Worten, sondern in Lebenshaltungen und Taten - können auch heute Menschen zu einem Neuanfang im Glauben bewegen.
 
Wir Christen müssen uns mit unserem Gottesglauben berührbar machen. Wer Lebenskontakt mit einem gläubigen Menschen bekommt, muss diesen Gott „schmecken“ können. Noch einmal: Darum ist es eben kein Einwand zu sagen, dass mein Glaube erst fest und sicher sein muss, ehe ich mich anderen zuwenden kann. Er muss ohne Zweifel „ehrlich“ sein, authentisch. Darum brauche ich als Zeuge Christi durchaus nicht meine Anfechtungen und Zweifel, meine Nöte und Ängste zu verstecken, etwa die Frage, die so manchen umtreibt: Stimmt es, dass wir mit uns selbst allein sind, haben wir wirklich ein letztes „Gegenüber“, zumal ein Gegenüber, dem an uns, dem an mir liegt? Das anzunehmen fällt in der Tat vielen Menschen schwer. Auch uns.
 
Auch Jesus selbst hat Anfechtungen erkennen lassen. Gerade sie können zu einem missionarischen Zeugnis werden, wenn denn alles, auch diese dunkle Seite meines Lebens zu einem Schrei nach Gott wird.
 
Martin Buber meinte, man könne von Gott nur sinnvoll im Vokativ, in der Form der Anrede sprechen. Daran ist sicher richtig, dass ein gleichsam objektiv vorgezeigter Gott sich letztlich wieder entzieht, wenn nicht aus dem Hinweisen und Aufzeigen ein Anrufen, ja eine Hingabe an ihn wird.
 
Jesus hat seine eigene Gottesverkündigung durch sein Leben, Leiden und Sterben exegesiert. Er hat nichts verkündet, was er nicht selbst gelebt hat. Darin ist der Kirche und ihrem Handeln auch in unserer Zeit der Weg vorgezeichnet. Wir müssen uns gegenseitig neue, unsere jetzigen Erfahrungen deutende und unsere gegenwärtigen Hoffnungen aufnehmende „Reich-Gottes-Geschichten“ erzählen.
 
Wir müssen neu lernen, von Gott größer zu denken. Wir müssen umkehren zu dem Gott der Verkündigung Jesu und der Heiligen Schriften. Wir brauchen eine Radikalisierung unseres Gottesglaubens, eine Durchsichtigkeit, eine Transparenz unseres kirchlichen Redens und Agierens auf die unbegreiflich größere Wirklichkeit Gottes hin, vor dem allein alle Fragen verstummen können.
 
So fasse ich meine Gedanken zu unserer Verantwortung als Christenmenschen in Kirche und Welt heute so zusammen: Vor aller Evangelisierung der Welt müssen wir mit der Evangelisierung bei uns selbst beginnen, wobei diese Einübung, dieses Erlernen des Evangeliums eigentlich niemals aufhört. Im Gegenteil: Je mehr wir uns mit dem Geist und in der Gesinnung Jesu der Welt zuwenden, desto mehr wird dieser Jesus uns aus und von dieser Welt her begegnen und uns neu und tiefer an sich ziehen. Er ist ja längst schon dort, wo wir ihn hintragen sollen. Aber er will eben, dass wir ihn dort finden - bei unseren Mitmenschen. Das wird dann auch unsere Seligkeit sein.