Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
Der Weg der Kirche in die Zukunft
Vortrag im Rahmen der Reihe "Predigten zur Fastenzeit" zum Thema "Wohin geht die Kirche?" in der Pfarrei St. Familia in Kassel am 20. Februar 2005


Sie fragen sich, wohin die Kirche geht und sind zugleich bewegt von den Diskussionen um die pastoralen Prozesse, die seit zwei Jahren im Gang sind. Die Zukunft des Christentums und der Kirche: Man könnte dieses Thema ziemlich individuell angehen Dies geschieht vielleicht sogar zu wenig. Denn in der heutigen gesellschaftlichen Situation kommt es bei allen strukturellen Fragen doch sehr auf die Widerstandskraft und Selbstständigkeit des einzelnen Glaubenden an, der freilich immer wieder durch seine Zugehörigkeit zu kleineren, überschaubaren Gemeinschaften und zu größeren Gemeinden gestärkt werden muss. Aber es scheint mir nicht weniger wichtig zu sein, die strukturellen Rahmenbedingungen des Christseins präziser ins Auge zu fassen. Denn die Gestalt und die Potenziale des konkreten Christseins hängen zwar nicht in der individuellen Ausprägung, aber doch im Blick auf den Standort sowie seine Möglichkeiten und Bedingungen davon mehr ab, als wir uns vielleicht eingestehen.

I.
Der gesellschaftliche Pluralismus ist eine Tatsache, von der man heute bei allen Diagnosen und Prognosen über den Ort von Glaube und Religion in der Gesellschaft nüchtern ausgehen muss. Wir leben in Gesellschaften, die zwar durch manche Verfassungsnormen und Gesetze, Bedürfnisse und Interessen zusammengehalten werden, die auch durchaus ethische Implikationen in sich tragen, aber es gibt keine homogene Grundlage spiritueller, religiöser und ethischer Überzeugungen, von denen alle geleitet werden. Durch die unverzichtbaren Grundrechte auf Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist der weltanschauliche und religiöse Pluralismus in besonderer Weise legitimiert.
Solange ein Gemeinwesen trotz dieser inneren Vielfalt faktisch genügend gemeinsame Substanz wahrt, wird es die Frage nach dem Pluralismus nur in relativ abgeschwächter Form geben. Man darf annehmen, dass dies auf der Basis eines Grundkonsenses der Nachkriegszeit, der sich vor allem auch in der Distanzierung und Abwehr der nationalsozialistischen Ideologie bildete, in Deutschland bis in die 70er Jahre der Fall war. Allmählich war der Vorrat an gemeinsamen Grundüberzeugungen erschöpft oder wenigstens verringert. Es ist nicht ausreichend gelungen, diese Grundüberzeugungen jedoch von der einen zur anderen Generation überzeugend weiterzugeben. Die umwälzenden Jahre nach 1968 haben dies an den Tag gebracht. Die Grundwerte-Debatte, vor allem im Jahr 1976/77, verebbte jedoch bald wieder folgenlos. Die Verlegenheit blieb. Die fortschreitende Pluralisierung der Lebensformen, vor allem im Bereich von Ehe und Familie, aber auch hinsichtlich ethischer Maßstäbe hat die grundlegenden Verschiedenheiten mehr und mehr mit einer gewissen prinzipiellen Schärfe an den Tag gebracht. Der gesellschaftliche Individualisierungsprozess hat dies beschleunigt. Nach der deutschen Einigung ist gerade die weltanschaulich-religiöse Neutralität unseres Gemeinwesens noch deutlicher geworden. Zusätzlich gab es durch die größere Mobilität der Menschen und durch den Aufenthalt vieler ausländischer Mitbürger mit bisher bei uns weniger bekannten religiösen Überzeugungen eine multikulturelle Grundstimmung, die auch die bisherigen kulturellen Standards in unserem Land veränderte. Der Tourismus und die Medien haben zusätzlich zu diesem Austausch beigetragen. Die Verfassungsdebatte nach der deutschen Einheit konnte diese Tendenzen gerade noch bewältigen.
In dieser Zeit beginnt auch stärker die Klage über Sinnleere und Sinnvakuum, abnehmende Bindekräfte und schwindende gemeinsame Wertüberzeugungen in unserer Gesellschaft. Auch liberale Stimmen äußerten sich besorgt. Besonders angesichts zunehmender Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft und vor allem steigender Jugendkriminalität ist die abbröckelnde Substanz gemeinsamer Wertüberzeugungen, die auch einer anderen Generation tradiert werden, beklagt worden. Besonders die Individualisierung hat sich bis in den Bereich der religiösen Überzeugungen und des Glaubens massiv durchgesetzt.

II.
Eine solche Situation, die gewiss noch differenzierter beschrieben werden kann, hat Auswirkungen auf Glaube und Religion sowie besonders auf die Kirchen als deren Träger. Die Kirchen dürfen dabei jedoch nicht ganz vergessen, dass unter anderen Faktoren auch die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts durch die Pluralisierung geistiger Grundüberzeugungen in der Gestalt der Konfessionen zu ihrem Teil zu der beschriebenen Entwicklung beigetragen hat. Dieser Pluralisierungsprozess ist jedoch weit über die Kirchen hinausgegangen und ist heute ein konstitutives Element moderner Gesellschaften, mit dem sich die Kirchen grundlegend auseinandersetzen müssen.
Eine erste Folge des radikalen Pluralismus ist eine gewisse Tendenz zur gesellschaftlich leichter akzeptablen Gleichgültigkeit aller Formen von Religiosität. Formal stehen sie – unbeschadet der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung im Einzelnen – mit gleicher grundsätzlicher Legitimation nebeneinander. Jede Privilegierung oder Überlegenheit stößt auf Misstrauen oder eine ideologiekritische Beurteilung. Bei einer vorherrschend individuellen Betrachtung des Phänomens Religion und einer distanzierten Einstellung zu den Großinstitutionen erzeugte diese Sicht eine relativ undifferenzierte Nivellierung aller religiösen Phänomene. Ein Missbrauch der Religion und ihrer Zerrformen in Aberglauben, Satanismus usw. sowie gewiss auch eine historische Bürde des Christentums über fast 2000 Jahre und gewiss auch Fehler in der Vergangenheit und Gegenwart haben eine kritische Grundeinstellung begünstigt und die Bindungen auch bei den Kirchengliedern gelockert. Dies hat militanten Gruppen und bisherigen Außenseitern neue Chancen gebracht und ihre bisher eher im Abseits verlaufenen Positionen hoffähiger gemacht.
Gottes Thron steht nicht leer, so ist der Titel eines bekannten Romans. Wo die Religion schwächer wird, ziehen problematische religiöse oder pseudoreligiöse Formen durch die Hintertür ein. Bedürfnisse, die nicht mehr vorwiegend durch die Religion erfüllt werden können, werden auf andere Weise besetzt, wie z.B. nach dem Ausfall der kommunistischen Staatsdoktrin am Weiterleben der Jugendweihe in den neuen Bundesländern abgelesen werden kann. So hat sich auch insgesamt eine Form vager Religiosität herausgebildet, die stark vom Einzelnen und seinen Bedürfnissen zusammengebastelt wird. Es kommt dann zu einem manchmal spannungsvollen oder auch widersprüchlichen Synkretismus mit allerhand Ersatz- und Versatzstücken aus allerlei Religionen. Dabei tritt besonders eine verbindliche Individualethik eher zurück, während die sozialethischen Ansprüche eher steigen. Sie sind ja auch meist an andere gerichtet. Zugleich besteht auch nach zahlreichen religionssoziologischen Untersuchungen kein Zweifel daran, dass eine solche frei schwebende subjektiv gewendete Religiosität wenigstens auf eine mittlere Dauer wenig Überlebenschancen hat, zumal wenn sie kaum oder gar nicht durch stabile Gruppen oder im Anhalt an Institutionen gestützt wird. Sie zerfällt oft rasch wieder, weil ihr nicht selten auch die Verbindlichkeit und eine dazu gehörende Lebensform fehlen. Hier gibt es viele Illusionen.
Dieser Prozess hat die Kirchen selbst mitverwandelt. Ihr Anspruch in der Öffentlichkeit ist anders geworden. Entweder wird er rücksichtslos absolut gesetzt, in eine Subkultur, die zwischen dem Kultivieren unangefochtener, wohliger und eher verborgener Nischen und der Pflege visionär utopischer Alternativen zur faktischen Gesellschaft schwankt. In jedem Fall ist der Anspruch der Kirche leiser, manchmal freilich auch unvernehmlich geworden. So existieren Überheblichkeit, Rückzug und Scheu nebeneinander und manchmal auch ineinander. In den Kirchen selbst ist dieser Pluralismus nicht nur deshalb lebendig, weil die Angehörigen der Kirchen selbst am gesellschaftlichen Pluralismus teilhaben und dadurch von selbst entsprechende Verhaltensmuster in die Kirche mitbringen, sondern das kirchliche Leben selbst ist im Blick auf Bewegungen, Spiritualität, Lebensordnung und Lebensformen bis hinein in grundlegende Auffassungen kirchlicher Lehre vielgestaltig, ja manchmal widersprüchlich geworden. Der Versuch der Integration vieler Gruppen in das Ganze verschlingt sehr viel Zeit, was freilich noch erträglich ist, lenkt aber sehr oft auch die Aufmerksamkeit in hohem Maß ab von den gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich die Kirchen gegenübersehen. Deshalb ist es nicht ganz unverständlich, dass unabhängige Beobachter nicht nur der religiösen Szene, sondern auch der kirchlichen Milieus nicht selten zur Feststellung kommen, die Kirche - nun in der Einzahl verstanden - löse sich immer mehr auf in viele Grüppchen, die beinahe einen sektenähnlichen Charakter haben. Ich halte eine solche Diagnose angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens Kirche letztlich für falsch, aber es gibt zu denken, dass durchaus wohlmeinende Beobachter einen solchen Eindruck gewinnen können.

III.
An dieser Stelle wird deutlich, wie die Individualisierung und der Pluralismus auch den öffentlichen Charakter von Glaube, Religion und Kirchen verändern. Die Sozialform der Kirchen verschwindet nicht, aber sie ändert sich. Wenn die Kirchen in diesem Pluralismus leben, schrumpft zunächst der Radius öffentlicher Anerkennung und Geltung. Auch wenn die staatskirchenrechtlichen Normen in Gültigkeit bleiben, erfolgt eine vielfache Verlagerung. Die Kirchen erscheinen zunächst in dem gleichgültigen Nebeneinander, von dem schon die Rede war. Dies nimmt ihnen zwar nicht ihre öffentliche Erscheinung und Tätigkeit, mindert sie aber allein schon durch die wachsende Vielzahl. Die Sympathie in der Gesellschaft gehört dann oft den Minderheiten, zumal wenn diese in ihrer Heimat oder in unserer Geschichte bedrängt sind bzw. waren. Andere gesellschaftliche Mächte benutzen freilich auch die Ko-Existenz vieler religiöser Gemeinschaften und religiöser Lebensformen, um dem Gewicht und dem Anspruch der größeren Kirchen Grenzen zu setzen. Hier sind gewiss rasch Machtfragen mit im Spiel. Es gibt aber auch eine andere Richtung der Verlagerung, indem nämlich Religiosität ganz in die Innerlichkeit verbannt wird. Darin liegt zunächst natürlich etwas Richtiges, weil der Glaube sich auf eine letzte personale Entscheidung stützt und in der Personmitte des Menschen wurzelt. Die neuzeitlichen Existenzbedingungen für Religion haben unter ganz verschiedenen Aspekten diese Eigenheit von Religion verstärkt, indem sie auf das Herz, das Gefühl, die Betroffenheit usw. eingeschränkt wird. Das Individuum wird so das letzte Maß aller religiösen Dinge. Problematisch wird diese partiell durchaus richtige Sicht, wenn der soziale Charakter menschlicher Lebensäußerungen und erst recht der Religion abgeblendet wird. Dies ist zwar anthropologisch und soziologisch falsch, aber mindestens für einige Zeit kann eine solche Sicht vorherrschend werden.
Damit ist ein zentrales Thema der Moderne angesprochen, das viele Facetten hat. Hiermit geht eine hochgradige Privatisierung der Religion einher, die nicht nur die öffentliche Betätigung der Kirche in ein anderes Licht rückt, sondern auch jeder sichtbaren, erst recht institutionellen Gestalt von Kirche gegenüber skeptisch ist. Religion erscheint als pure Privatsache, was sie - in einem noch ganz allgemeinen Sinne - zweifellos im Blick auf die Wahl einer religiösen Überzeugung und ihre Ausübung auch ist, damit jedoch nicht den Anspruch im öffentlichen Raum verliert. Dies sind Positionen, die der Liberalismus immer schon vertreten hat, wenngleich dies auch in vielen Spielarten erfolgte.
Die Auflösung dieses Problems ist nicht ganz einfach. Zunächst hat der christliche Glaube von der Bibel her einen Anspruch auf rationale Vermittelbarkeit seiner Gehalte, was sich durch die Entwicklung einer argumentativen Theologie und einer vielfältigen missionarischen Inkulturation konkretisiert. Die Botschaft selbst ist jedoch universal ausgerichtet und betrifft zweifellos den ganzen öffentlichen Raum zwischen Himmel und Erde. Dass dieser Öffentlichkeitscharakter keine Zwänge erlaubt, die die Freiheit des Glaubens des Einzelnen verletzen, liegt auf der Hand. Dies ist eine wichtige theologische Voraussetzung, die in den letzten Jahrzehnten - nicht zuletzt im Kontext der verschiedenen theologischen Bewegungen der Hoffnung, der Befreiung, aber auch der politischen Theologie - verstärkt wiedergewonnen worden ist, heute jedoch eher in der Gefahr ist, an Verbindlichkeit zu verlieren.
Die Bewegungen von der Gesellschaft und vom Staat her laufen anders. Da der Staat weltanschaulich und religiös neutral sein muss, jedoch auf Anerkennung von Wertüberzeugungen angewiesen bleibt, kann er selbst direkt keine ethischen Maßstäbe für das Zusammenleben der Menschen produzieren, von religiösen Überzeugungen ganz zu schweigen. Er kann freilich - in demokratischen Gesellschaften - vorwiegend indirekt durch sein Verhalten zur Erosion oder zur Pflege gemeinsamer Grundüberzeugungen beitragen. Jedenfalls darf mindestens im Sinne unsere Grundgesetzes die Religionsfreiheit nicht nur negativ verstanden werden im Sinne bloßer Duldung, sondern der Staat muss der Religion einen offenen Platz überlassen, den sie in eigener Verantwortung und durch eigene Betätigung in Anspruch nimmt und gestaltet. In dieser positiven Religionsfreiheit liegt erst die wahre Regelung, nicht nur in der halben negativen.
Wenn der Staat angewiesen ist auf das Ethos seiner Bürger, das er jedoch nicht selbst grundlegend beeinflussen kann, so muss ihm diese positive Offenheit willkommen sein, denn nur im konkret gelebten Ethos, besonders auch dem religiös bestimmten Ethos, liegt die Möglichkeit einer wertgebundenen Unterstützung. Es wäre ja ein Irrtum zu glauben, dass man abstrakte "Grundwerte" gleichsam in einem direkten Zugang verwirklichen kann. "Grundwerte" sind relativ abstrakte Größen, denn sie leben auf die Dauer nur in einem bestimmten, fest verankerten Ethos, das auch mit einer konkreten Vorzugswahl für eine Religion oder für eine Weltanschauung zu tun hat. Es gibt eben keine abstrakten Träger von "Grundwerten", sondern viele Subjekte eines jeweils eigenen und konkret bestimmten Ethos, von dem her insgesamt das Gemeinwohl mitgetragen wird. Der Staat hat zwar deshalb zu den einzelnen Religionen und Kirchen eine gewisse Distanz, aber dies ist nicht zu verwechseln mit Indifferenz. Der Staat wird in den Wahrheitsfragen zwischen den Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen nicht Partei ergreifen. Aber man darf nicht nur diese negativ abgrenzende Dimension sehen, sondern muss auch die dadurch bedingte "Armut" des Staates selbst erkennen. In geistigen und ethischen Fragen ist der Staat sehr geschwächt, und zwar konstitutiv, von seinem Ursprung her, nicht nur faktisch.
Dadurch ist auch klar geworden, dass die christliche Religion weder von ihrem eigenen Verständnis noch aufgrund unserer Verfassung in den Bereich bloßer Innerlichkeit eingeschlossen werden darf. Indem sie den ganzen Menschen mit Leib und Seele, als Individuum und in Gemeinschaft betrifft, besonders wenn es auch um Fragen der Erziehung und Bildung, der Sorge um den Menschen in Krankheit und Not geht, ist das Gemeinwohl im Spiel. Dadurch wird die Religion - von der Verfassung her mindestens indirekt - zu einer öffentlichen Angelegenheit. Dies ist auch letztlich der Grund, warum man die Kirche und mit ihr die Religion nicht nur als einen begrenzten Dienstleistungsbereich neben vielen anderen Sektoren ansetzen darf, sondern dass Glaube und Religion von Haus aus nach dem Sinn des Ganzen fragen, auch wenn dies vielleicht manchmal eine unzeitgemäße und unbequeme Frage ist. Es kann dann doch ein Dienst am Menschen sehr wohl auf der Höhe der Zeit werden.

IV.
Diagnosen gibt es vielleicht genügend, aber es nützt nichts, wenn viele Ärzte am Krankenbett stehen, die eine verlässliche Diagnose stellen, aber keine Therapie anzuwenden wissen. Im Rahmen dieses Vortrags möchte ich deshalb wenigstens folgende Richtpunkte für eine Therapie formulieren, die zum guten Teil auch an anderer Stelle ausführlicher begründet und entfaltet sind.

1. Anerkennung der pluralistischen Grundsituation und Mut zum eigenen Standort:
Wir müssten eigentlich in einer Phase sein, in der man den gesellschaftlichen Pluralismus zwar nicht mit besonderer Freude begrüßt, aber ihn doch als Faktum und Aufgabe annimmt. Zum Jubel besteht kein Anlass, denn er bringt auch viele Zerrissenheiten und Konflikte in die kleinen und großen Lebenskreise der Menschen. Er ist auch wandlungsfähig, ohne dass man die künftigen Gestalten schon umschreiben könnte. Es ist auch nicht sicher, ob er der Weisheit letzter Schluss ist im Finden eines gemeinsamen Schlüssels zum Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Gerechtigkeit. Aber wir sollten davon ausgehen, dass sich auf längere Zeit keine anderen Lösungsmöglichkeiten dafür abzeichnen. Wir haben auch bis jetzt genügend Zeit gehabt, um uns in die Spielregeln eines Zusammenlebens mit Menschen anderer Grundüberzeugungen und Religionen einzuüben. Toleranz, Dialogbereitschaft und Argumentationsfähigkeit sind in aller Munde. Dies gehört zum fast selbstverständlichen Handwerkszeug des Lebens in pluralistischen Gesellschaften. Aber bisher haben wir dies zu oft bloß im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders verstanden und haben uns eher gescheut, unsere eigene Stimme im pluralistischen Konzert deutlich werden zu lassen. Absolutistisches und fundamentalistisches Gehabe ist dabei freilich ebenso schädlich wie Anpassung und blinde Gefolgschaft im Blick auf den Geist der Zeit. Wenn wir im Pluralismus überleben wollen, dann brauchen wir auch mehr Mut zum eigenen Platz und zum unverwechselbaren Profil des eigenen Standortes. Wenn wir wirklich katholisch, d.h. wenigstens potenziell universal sind und unserem Glauben sowie unserer Vernunft einiges zutrauen, gelangen wir dabei nicht in eine bornierte Enge. Wir müssen endlich heraus aus einer Situation des Minderwertigkeitsbewusstseins und brauchen zum Erweis unserer Geistesgegenwart nicht allen möglichen Tendenzen nachzulaufen. Wir kommen sonst ohnehin immer zu spät und sind morgen schon von gestern. Wir dürfen auch nicht nur nachplappern, was ohnehin ist, auch nicht Vorhandenes nur multiplizieren. Wir müssen uns zu unserem unverwechselbaren Profil bekennen.

2. Mut zur geistigen Offensive:
Wiir stehen schon seit langer Zeit mit dem Rücken an der Wand und müssen uns ständig selbst verteidigen. Diese Position ist nicht gut, weil der Spielraum immer enger wird. Andere bestimmen die Themen. Wir sind stets wie in einem Verhör. Wir haben jedoch eine wertvolle und hilfreiche Substanz einer vom Glauben erleuchteten Vernunft, um den Anspruch und den Trost des Evangeliums offensiver zu vertreten. Offensiv heißt nicht aggressiv. Aber es kommt darauf an, dass wir aufbrechen und mehr in einen geistigen Wettbewerb eintreten als bisher. Wir dürfen auch andere mehr nach ihren Konzepten und ihren Lösungen befragen. Wenn dabei die Gemeinsamkeit des Humanen oder Christlichen wächst, kann es nie ein Schaden sein. Freilich dürfen wir dabei auch nicht bloß rückwärts gewandt operieren. Wir haben schon eine ganze Reihe von Eigentoren geschossen, die unnötig sind. Wenn das Alte und Bewährte wiederholt wird, dann muss es auch seine klärende und befreiende Kraft für heute erweisen. Dies ist wahrhaft katholisch. Dies gilt besonders auch für die Theologie als Wissenschaft und alle ihre Gespräche mit den Nachbardisziplinen. Man wartet viel mehr auf uns, als wir uns selbst zutrauen. Jetzt ist nicht die Zeit des Kleinmuts, freilich auch nicht der großen Sprüche. Alle großen Scheine müssen in Münze eingelöst werden.

3. Vertiefung des gemeinsam Christlichen nach vorne:
Die Ökumene ist ein Geschenk des Geistes, auch als Erbe des 19. und 20. Jahrhunderts. Darum - so bin ich fest überzeugt - wird die Ökumenische Bewegung auch nicht mehr untergehen. Aber Krisen und Rückschläge muss sie vielleicht doch durchmachen und überstehen. Wenn nicht alles täuscht, dann stehen wir vor einer solchen Bewährungsprobe. Wir haben - Gott sei gedankt - in vielem zueinander gefunden. Vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar große Hindernisse konnten überwunden werden. Aber manchmal haben wir uns auch in unseren Schwächen angepasst und sind zueinander geflüchtet wie Kinder, die bei Kälte ein gemeinsames Nest aufsuchen. Die Ökumene, die nur den Status quo meint anerkennen zu können, wo keiner sich ändern muss, ist für den Christen eigentlich schwer erträglich. Darum müssen wir sehr viel mehr in Auseinandersetzung mit der Stärke des Anderen wachsen und dürfen uns nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben. Der gelebte Glaube ist konkret und verrät oft erst im Vollzug seine innere Kraft. Abstrakte Formeln sind noch längst nicht gelebtes Zeugnis. Darum müssen wir auch viel mehr in die gemeinsame Tiefe dringen. Ökumenische Ausrichtung allein ist zu wenig. Bei aller Offenheit müssen wir viel mehr voneinander lernen, und sei es auch durch die Auseinandersetzung und den Streit hindurch. Es versteht sich von selbst, dass damit nicht einer Wiedergeburt des Konfessionalismus das Wort geredet wird. Wir müssen noch offener sein und noch mehr wagen, aber dies nur, wenn wir auch tiefer verwurzelt sind im Glauben und noch näher bei Jesus Christus bleiben. Ich werde nochmals darauf zurückkommen (vgl. Nr. 8).

4. Mut zum persönlichen Zeugnis:
Unsere Welt verlangt das persönliche Eintreten für die Sache Jesu Christi und der Kirche. An nicht wenigen Stellen bedarf es des Bekenntnisses, ja bisweilen auch des Widerstands und des Widerspruchs. Glaube hat von Anfang mit dem mutigen, gerade auch öffentlichen Bekenntnis zu tun. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir herausgefordert werden und - hoffentlich immer mehr - auch provokativ wirken. Aber mit unserer Botschaft, nicht durch ein falsches Auftreten. Dennoch vertrauen wir noch viel zu sehr auf das Amt und die Institutionen. Hier sind wir in Deutschland vielleicht sogar mehr gefährdet als anderswo, weil wir leichter nach verfügbaren Institutionen und Diensten rufen können. Aber allein damit wird man noch nicht viel bewegen. Es kommt noch viel entschiedener auf das persönliche Zeugnis des Lebens und des Glaubens an, das wir indirekt, in der Tat, aber auch direkt, im Wort, bekunden. Der künftige Christ wird ein Zeuge sein, oder er wird bald nicht mehr sein. Als Zeuge vermittelt er und ist selbst jemand, der hinter seiner Sache zurücktritt, aber gerade dadurch wirkt. Es wird ein missionarisches Zeugnis sein, das in viele Winkel unseres Lebens hineinleuchten kann, wo der Arm des Amtes nicht hinreicht. Dann verwirklichen wir die Mündigkeit des Christen und das gemeinsame Priestertum. Daran werden wir schließlich alle einmal gemessen und gerichtet, nicht an den Funktionen, die wir haben.

5. Zuerst Leidenschaft für Gott:
Wir beschäftigen uns mit vielem, allzu vielem. Deswegen sehen wir oft vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Es fällt uns schwer, uns auf das Eine Notwendige zu konzentrieren. Wir haben die Radikalität und Einfachheit des Glaubens verloren und müssen sie wiedergewinnen: alle Hoffnung auf Gott zu setzen. Dann müssen freilich Besinnung und Meditation, Gebet und Anbetung einen ganz anderen Rang bekommen. Wir sind immer versucht, Gott zu verwalten, wenn wir es denn könnten, aber wir müssen ihn täglich von ganzem Herzen und mit allen Kräften neu suchen. Uns ist die Leidenschaft für Gott verloren gegangen. Wenn wir Gott Gott sein lassen und er wirklich alles in allem ist, verlieren wir nichts, wenn wir uns vorbehaltlos ihm zuwenden. Die Bibel verspricht uns, dass uns dann alles andere dazugegeben wird. Dann wird das Gespräch mit dem Nachbarn und dem Kranken, mit dem Künstler und dem Wissenschaftler, dem Buddhisten und dem Atheisten erst aufschlussreich. Wenn wir dann ein wenig wie die Narren Gottes in dieser Welt erscheinen, ist dies nur ein Gewinn. Wir können uns darin auch ermutigen und ansprechen lassen von den Zeugen, die eine besondere Kostbarkeit unseres Glaubens sind, den Heiligen. Sie zeigen uns, dass unser Glaube, wenn wir uns nur auf ihn einlassen, Fleisch und Blut gewinnt, keine blasse Idee bleibt oder eine ferne Utopie am Himmel ist.

6. Ehe und Familie stark machen:
Eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche der Zukunft ist ein noch größerer Einsatz für die Wertschätzung von Ehe und Familie, besonders bei jungen Menschen. Zwar hat sich die Kirche immer schon mit hoher Priorität für Ehe und Familie eingesetzt, aber heute ist beides elementar gefährdet. Dabei treffen wir eine merkwürdige Situation vor, denn nach Umfragen gehört eine geglückte Ehe und Familie für einen sehr hohen Prozentsatz von Menschen zum Inbegriff von Glück schlechthin. Im faktischen Verhalten macht man aber bei sich und anderen eine gegenteilige Erfahrung. Offenbar muss man Ehe und Familie in einem viel höheren Maß lernen, als dies bisher durchschnittlich bewusst war. Dabei kommt es ganz entscheidend auf den inneren Zusammenhang von Ehe und Familie an, denn heute werden beide auseinandergerissen und in ganz verschiedene Lebensformen aufgeteilt (vgl. die Redensarten "Familie ist, wo Kinder sind" - "Homo-Ehe"). Dazu gehört natürlich auch die Ermutigung zu Kindern, die unsere Zukunft ausmachen. Die demographische Entwicklung wird immer noch in hohem Maß in ihrem Gewicht unterschätzt. Die Kirche kann und muss in diesem Feld einen noch höheren Beitrag leisten. Dies gilt erst recht für den Umgang mit den jüngeren Generationen.

7. Sorge für Arme und Benachteiligte:
Die Sorge für Arme und bedrängte Menschen gehört elementar zum christlichen Glauben. Die Kirche hat sich in verschiedenen Epochen und zu allen Zeiten im höchsten Maß verdient gemacht um die Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind. Dies gilt für die individuelle Hilfe im Zeugnis der einzelnen Christen, aber auch für viele strukturelle Hilfen, z.B. von der Schaffung der Krankenhäuser bis zu den Sozialstationen in den Gemeinden. Vielleicht kann die Kirche der Zukunft nicht mehr so viele Einrichtungen sozialer Art flächendeckend aufrecht erhalten wie bisher, aber sie darf niemals die Sorge gerade für diejenigen aufgeben, die oft vergessen werden, vom sozialen Netz nicht aufgefangen werden oder zu lange auf Hilfe warten müssen. Hier muss die örtliche Caritas ehrenamtlich und hauptberuflich gestärkt werden. Dabei darf man nicht vergessen, wie wichtig nicht nur die materielle Not ist, die es auch bei uns durchaus vor unserer Haustüre gibt, sondern die unsichtbare Not in den Herzen der Menschen. Sie ist oft verborgen und findet nicht immer Partner zur Hilfe. Man denke an die vielen Verletzungen und Rücksichtslosigkeiten. Hier ist die Seelsorge noch stärker gefragt als bisher, aber dies gilt auch für unsere Beratungsdienste. Der Schutz des Lebens und die Verteidigung des Lebensrechtes sind dabei erstrangige Kennzeichen des Ernstes in diesem Bereich.

8. Auf dem Weg zur einen Kirche:
Das Ärgernis getrennter Kirchen schadet allen christlichen Glaubensgemeinschaften (vgl. oben Nr. 3). Wir spüren oft den Skandal nicht mehr, wenn die Kirche, der Leib des Herrn, geteilt ist. Wir können nur dankbar sein, wie vieles sich in den letzten Jahrzehnten positiv geändert hat. Aber es gibt zweifellos auch noch ungeklärte Fragen im Verständnis der Kirche, teilweise der Sakramente, besonders aber im Verstehen des kirchlichen Amtes. Hier geht es um die Probe, wie weit wir wirklich zu echten gemeinsamen Grundwahrheiten kommen, wie dies in erstaunlicher Weise schon bei der Frage der Rechtfertigung gelungen ist (vgl. die Unterzeichnung der Vereinbarung am 31.10.1999 in Augsburg). Vereinbarungen, auch theologische Konsense, müssen in der Ökumene besonders solide sein, denn fehlgeleitete Erwartungen verursachen in diesem Bereich einen hohen Verdruss, wenn die Versprechungen nicht halten. Dies gilt besonders auch in Blick auf die bekenntnisverschiedenen Ehen und die Erwatung eines gemeinsamen Herrenmahles. Wir sind auf einem guten Weg, erleiden aber immer wieder auch Verzögerungen und Rückschläge, Umwege und Irrwege. Nur gibt es zum Gebot des Herrn, eine Kirche zu sein, keine Alternative. Freilich muss man dann immer noch fragen, wie diese Einheit genauer strukturiert sein muss (vgl. die "Modelle der Einheit").

V.
Ich komme zum Schluss. Einige Worte möchte ich am Ende zu Europa als unserer gemeinsamen Wurzel sagen. Wir sind von derselben Geschichte und weitgehend auch von denselben Schicksalsschlägen bestimmt. Dies ist die europäische Kultur, an deren Wurzel der christliche Glaube eine Haupttriebkraft ist. Es gibt gewiss viele Antriebe für Europa: die Griechen und die Römer, die Germanen und das spätere klassische Erbe, der Islam und die reformatorischen Quellen, die Aufklärung und der Sozialismus, aber auch die oft vergessene slawische Welt. Zweifellos kommen die stärksten Wurzeln aus dem biblisch-jüdischen und dem christlichen Glaubensverständnis. Wenn es darum geht, Europa wieder eine Seele zu geben, wie es Jacques Delors forderte, so kommt es ganz gewiss auf eine Erneuerung des Christlichen an. Dies bezieht sich auf die Vertiefung des Glaubens im Blick auf jeden Einzelnen, aber auch hinsichtlich der Reform der Kirchen, die nicht ohne eine noch größere ökumenische Nähe erfolgen kann. Hier geschieht vieles, aber noch mehr steht uns als Aufgabe bevor.
Vieles ist uns in diesem neuen Europa schon gemeinsam. In manchen Lebensbereichen werden wir mehr, als uns bewusst ist, von der europäischen Gemeinschaft, ihren Verordnungen und Bestimmungen beherrscht, aber in der geistigen, ethischen, spirituellen Dimension sind wir geradezu Zwerge geblieben. Wir hinken immer noch hinter den ökonomischen und vor allem auch politischen Einigungstendenzen hinterher, auch wenn man sich bewusst ist, dass jede geistige Einheit nicht einfach bürokratisch herbeigeführt und politisch "gemacht" werden kann, so haben wir – auch als Kirchen im europäischen Raum – noch einen erheblichen Nachholbedarf an Zusammenstehen und geistig-geistlicher Aufrüstung im Blick auf das, was kommt. Und ein so gestärktes Europa muss noch viel stärker über sich hinausgehen und im Zeitalter der Globalisierung die weltweite Verantwortung mutig annehmen. Viele warten auf uns. Wir dürfen sie nicht enttäuschen.